Seit über über 2000 Jahren leben Griechen am Bosporus. Noch vor 80 Jahren lebten rund 150.000 griechisch-stämmige Bürger in Istanbul – heute sind es vielleicht noch 2.000. Wie kam es dazu? Noch immer sprechen nur wenige offen über die Ereignisse von vor wenigen Jahrzehnten, die den Exodus der Istanbul-Griechen erzwangen.

Siehe auch Dokumentarfilm : Adieu Istanbul   - mit deutschen, englischen, türkischen und griechischen Untertiteln - bis Oktober 2015 kostenfrei zu sehen unter vimeo.com/ondemand/adieuistanbul  -  PromoCode/ Aktionscode: Istanbul


Marina-Kiriakopulo

 

 Marina Kiriakopoulo lässt sich schwer auf ihr Sofa fallen. Sie ist 72 Jahre alt, ihre Wohnung in Athen verlässt sie nur noch selten. „Es ist nicht gut für mich, über die Vergangenheit zu reden. Ich versuche seit Jahrzehnten das alles zu vergessen, aber es gelingt mir nicht. Ich war mehr als 20 Jahre lang nicht in Istanbul. Mein Vater war nie mehr dort. Sie haben uns alles weggenommen. Wissen Sie, Istanbul, das ist nicht nur eine Stadt - das ist ein Leben!“

 

Mihalis-Vasiliadis

 

Auch Mihails Vasiliadis lebte über 30 Jahre lang fern von seiner Heimatstadt Istanbul. Aber anders als Marina Kiriakopoulo ist er vor gut 7 Jahren an den Bosporus zurückgekehrt. Er ist heute Herausgeber der griechischen Tageszeitung Apoyevmatini in Istanbul. Mihalis Vasiliadis hatte schon vor 1974, bevor er Istanbul verließ, bei dieser Zeitung gearbeitet. Jetzt sitzt er in einem kleinen Raum, der mit seinen alten Möbeln eher einem Museum als einer Redaktion ähnelt.

Die Redaktion findet man heute noch dort, wo die Zeitung einst gegründet wurde: In einer Passage im Zentrum des europäischen Teils der Stadt, an der Istiklal Caddesi. 1926, als Apoyevmatini zum ersten Mal erschien, lebten 800.000 Menschen in Istanbul, damals hatte die griechische Gemeinde am Bosporus über 120.000 Mitglieder und die Zeitung eine Auflage von 30.000. Damit war Apoyevmatini das meistverkaufte Blatt am Bosporus. Mehr als 30 Angestellte recherchierten, schrieben und druckten Apoyevmatini, über drei Stockwerke erstreckten sich Redaktionsräume und Druckerei. Geblieben sind heute davon rund 30 m²: Ein Raum mit uraltem Mobiliar, der durch einen brüchigen Holzrahmen aus dem letzten Jahrhundert aufgeteilt ist. Täglich werden gerade noch 600 Exemplaren gedruckt und verteilt, denn heute leben nur noch 2000 Griechen in Istanbul, oder 605 Familien, wie man hier sagt

Auch die Passage, in der man die griechische Zeitung noch heute findet, verändert sich nach und nach. Traditionelle Fachgeschäfte weichen Schnellrestaurants, Souvenirläden und Schankstuben. Früher nannte man die Istiklal Caddesi die „Grand Rue de Pera“, eine Straße, auf der man nur mit gebügelten Hosen flanierte, das „kleine Paris“. Fast alle Geschäfte an der einstigen Prachtstraße von Istanbul gehörten Armeniern, Juden, oder Griechen - bis zu jenem Abend…, am 6.September 1955.

Schon zur Mittagszeit standen da und dort Männer zusammen, die Mihalis Vasiliadis an ihrer Kleidung als Fremde von außerhalb Istanbuls erkannte. In der Nacht zuvor hatte jemand Häuser und Geschäfte mit einem roten Kreuz markiert. Die „Reichskristallnacht“ von Istanbul, wie sie später auch genannt wurde, begann um 19 Uhr.

 

John-Stoupakiz

John Stoupakiz war damals 18 und wohnte mit seinen Eltern auf der Istiklal Caddesi. John nennt man ihn erst später, als er nach Amerika ausgewandert war. „Mein Vater meinte immer stolz: Wir machen die beste Butter in der Türkei. Ich war an jenem Tag mit ein paar Freunden auf dem Heimweg von unserem Training im „Beyoglu-Sport-Klub“, der war nur eine Ecke von der Istiklal-Strasse entfernt. Als wir dorthin kamen, traute ich meinen Augen nicht. Was ich dort sah, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Es war, als hätte eine Bombe in dieser Einkaufsstraße eingeschlagen. Alle Läden waren aufgebrochen, die ganze Chaussee war übersät mit den Waren aus diesen Geschäften, sodass man kaum gehen konnte. Man musste ständig höllisch aufpassen, denn immer wieder flogen aus oberen Stockwerken Stühle Geschirr oder auch andere Möbelstücke auf die Strasse. Die griechische Metzgerei, an der wir zuerst vorbeikamen, kannte ich sehr gut. Ihr Besitzer war ein Freund meines Vaters. Sie war aufgebrochen und die Einbrecher warfen Fleisch und Wurst aus dem Schaufenster auf das Pflaster. Es gab ein paar Gestalten in dunklen Anzügen, die den Mob dahin und dorthin dirigierten - dann sahen wir, dass einzelne Geschäfte unversehrt geblieben waren. Schliesslich wurde uns klar, dass es die Marodeure auf Geschäfte der Minderheiten abgesehen hatten, vor allem auf die der Griechen.“

 

1955 01

 

1955 02

 

Auch Marina Kiriakopulo’s Vater war auf der Istiklal Caddesi. Er wollte eigentlich ein Geschenk für Marina kaufen, denn sie hat am 7. September Geburtstag. Als er sah, was dort vor sich ging, holte er aus seinem Büro in der Nähe der Istiklal-Caddesi seinen Fotoapparat – und er machte die ersten Bilder, die von diesem Pogrom später im Ausland veröffentlicht wurden. In jener Nacht wurden 4200 Geschäfte der griechischen Gemeinde aufgebrochen geplündert und/oder in Brand gesetzt, über 1000 Wohnungen der Griechen, 71 Fabriken, 73 Kirchen und 26 Schulen.

 

1955 03

 

Wer diesen Mob dirigiert hatte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Damals schrieben die Zeitungen, der „spontane türkische Volkszorn“ habe sich entladen, weil griechische Nationalisten auf das Geburtshaus des Staatsgründers Atatürk in Thessaloniki einen Anschlag verübt hätten. 5 Jahre später, nach dem Militärputsch 1960, wurde der Regierungschef Adnan Menderes von der Militärjunta gar zum Tode verurteilt und aufgehängt, auch, weil er dieses Pogrom zu verantworten habe. Aber es gibt nach wie vor ernsthafte Zweifel, ob das stimmt. „Mein Vater erzählte mir immer wieder die Geschichte von einem Soldaten, der am 7. September vor einem zerstörten griechischen Laden Wache hielt“, berichtet Marina Kiriakopulo.“ Er ging auf ihn zu und fragte ihn: Was ist denn hier los ? Was machst du da? Der Soldat antwortete ihm: Bruder, ich verstehe das Ganze auch nicht ! Gestern gab man mir den Befehl, ich soll dieses Geschäft hier zerstören, und heute habe ich den Befehl, ich soll den Laden bewachen und beschützen. Ich kapiere das alles auch nicht !“

Kein Türke hat damals einem Griechen geholfen

„Kein Türke hat damals einem Griechen geholfen, keiner!“, sagt Mihalis Vasiliadis. „Natürlich gibt es zahlreiche Geschichten, wie ein Mehmet oder ein Mustafa einen Mihalis oder einen Yorgos gerettet haben. Das stimmt, das sind keine Lügen! Aber die haben denen nicht geholfen, weil sie Griechen ware, sondern weil sie ihre Freunde waren. Meine türkischen Freunde hatten damals immer wieder gefeixt: Mihalis, du bist so ein guter Mensch, das glaubt ja keiner, dass du ein Grieche bist! Wir hatten einen Hausmeister, der hieß Ahmet. Als in jener Nacht der Mob in unserer Straße kam, um uns zu überfallen, nahm Ahmet eine türkische Fahne in die Hand, stellte sich vor unser Haus, schwenkte die Flagge und rief: Hier wohnen keine Griechen! - und er hat uns so gerettet. Aber als die Plünderer an unserem Haus vorbei waren, legte Ahmet die Fahne weg, nahm eine Axt, rannte dem Mob hinterher und zerstörte mit ihnen zusammen die Wohnungen unserer griechischen Nachbarn.“

Mihalis Vasiliadis ist müde. Die Zeitung produziert er heute praktisch alleine, und er weiß nicht, wie lange er das noch schafft. Er selbst lebt von seiner Rente. Was an Geld vom Verkauf des Blattes und den wenigen Anzeigen reinkommt, das gibt er den Verteilern. „Wir müssten jeden Tag mindestens 5000 oder 6000 Zeitungen verkaufen, um finanziell über die Runden zu kommen. Aber das ist vollkommen unmöglich. Wir können unsere Auflage von 600 nicht einmal auf 605 steigern, im Gegenteil: Abonnenten sterben - wir machen jeden Tag umgerechnet rund 150 € Verlust.“

 

Dimitri-Frangopulos

 

Ab und an besucht ihn Dimtri Frangopulos. Er ist 82 Jahre alt und war von 1958 an 35 Jahre lang Rektor am grössten griechischen Gymnasium in Istanbul, Zografyon. Das Schlimmste war nicht das Pogrom 1955, da sind sich die beiden einig. Das dauerte ja nur 2 Tage. Danach verließen auch lediglich etwa 15.000 Mitglieder der griechischen Gemeinde den Bosporus. Die anderen reparierten die Schaufenster ihrer Geschäfte und räumten ihre Wohnungen auf. Aber dann, 1964, wurde der Druck immer größer, und die Angriffe und Schikanen dauerten diesmal gut 10 Jahre. „Die Zypern-Krise war schliesslich die Ausrede dafür“, erzählt der alte Schulleiter, aber es sei nur eine Ausrede gewesen, „im Grunde ging es darum, uns loszuwerden.“

Wer damals, nach 1964, auf der Straße laut Griechisch sprach, wurde nicht selten auch angepöbelt oder man warf ihm Steine hinterher, denn überall hiess es: Mitbürger sprecht Türkisch ! „Wenn ich mit meinen kleinen Töchtern im Taxi fuhr, hielt ich ihnen auf der ganzen Fahrt den Mund zu. Ich hatte Angst, wenn der Fahrer hört, dass wir Griechen sind, dass er uns aus seinem Fahrzeug wirft“, erzählt Dimitri Frangopulos.

In jenen Jahren wurde vielen griechischen Schulen die Zulassung entzogen. Es gab auch kaum Schulbücher. Wenn ein griechischer Schuldirektor aus irgend einem Grund seinen Posten verließ, sei es, weil er in Urlaub ging, oder krank wurde, dann nahm sofort sein türkischen Vertreter seine Stelle ein. Dimitri Fangopulos musste schliesslich sogar seine Lehrerwohnung im Schulgebäude räumen. Die Schüler durfte keine Schulabzeichen mehr auf ihrer Uniform tragen, durften das Schulgebäude nur noch durch den Hinterausgang verlassen und waren gehalten, unverzüglich nach Hause zu gehen.

... jeden Tag beweisen, dass es uns noch gibt

Damals wurden im Zografyon-Gymnasium mehr als 700 Schüler unterrichtet. Heute sind es noch 45. Von 59 griechischen Schulen in Istanbul gibt es noch gerade noch 5, zwei davon haben insgesamt nur 12 Schüler. Letztes Jahr wurde wieder eine Schule geschlossen, weil die Lehrer dort nur noch einen einzigen Schüler zu unterrichten hatten. „Wir sind heute der kranke Mann am Bosporus“, meint Yani Demircioglu, der Nachfolger von Dimitri Frangopulos. „Allein die Lehrer zu motivieren wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Sie können ja nicht einmal mehr zwischen einem begabten Schüler und einem weniger Begabten unterscheiden. Sie müssen alle mitnehmen, ganz egal wie, denn wir wollen ja Tag für Tag beweisen, dass es uns noch gibt!“

’“Aber bald wird es uns nicht mehr geben“, seufzt Laki Vasiliadis. „Schauen Sie, ich rede ja auch mit ihnen nur noch Türkisch, meine Tochter spricht noch viel weniger Griechisch als ich, irgendwann wird es uns gar nicht mehr geben.“ Es gibt nur noch zwei Geschäfte auf der Istiklal Caddesi, die einem Griechen gehören. Eines davon ist das von Laki Vasiliadis. Er verkauft Orthopädie-Artikel, die Firma wurde 1919 gegründet, sie ist eine der ältesten der Türkei. Als die türkische Presse in den 60iger Jahren zum Boykott der Geschäfte der Griechen aufrief, war er noch Schüler. „Kauft nicht bei Griechen! Jede türkische Lira, die ihr bei Griechen ausgebt, ist eine Kugel für unsere türkischen Brüder auf Zypern!“ – hiess es da.

Er hat selbst erlebt, wie die türkische Polizei systematisch alle griechischen Geschäftsleute in Ihrem Unternehmen und auch zuhause heimsuchte, dort alle Unterlagen, ob geschäftlich oder privat, beschlagnahmte, „zur Überprüfung“, wie es hiess. „Wissen Sie,“ sagt er, „Sie brauchen einem Unternehmer keine Pistole an den Kopf halten, um ihn zum Aufgeben zu zwingen. Da gibt es noch viele andere Möglichkeiten.“ Heute leben noch etwa 25 griechische Geschäftsleute am Bosporus.

Laki Vasiliadis ist auch im Vorstand des traditionellen Beyoglu-Sportclubs der griechischen Gemeinde. Der Club hat zwar über 200 eingetragene Mitglieder, Jugendliche kommen kaum mehr zum Trainieren. Auch hier sagt man: Wir wollen vor allem zeigen, dass es uns noch gibt! Aber jeder im Vorstand weiß, ohne neue vor allem junge Mitglieder wird der Verein nicht mehr viele Jahre überleben.

Dort, wo der Patriarch erhängt wurde

Es ist nicht weit vom Beyoglu-Sportclub zu einem besonderen Mahnmal, das an das Endes der fruchtbaren Koexistenz zwischen Türken und Griechen erinnert: Das verschlossene Eingangstor zum Ökümenischen Patriarchat. Bartholomäus I., der Patriarch, der noch heute dahinter residiert, ist ganz grob gesagt, der Papst der Orthodoxen Kirche mit seinen rund 350 Millionen Gläubigen. Er gilt als Nachfolger des Apostel Andreas, der soll im Jahre 37 nach Christus die erste Gemeinde am Bosporus gegründet haben. 270 Patriarchen der orthodoxen Kirche haben bisher in Konstantinopel und Istanbul residiert.

Anfang des 19. Jahrhunderts bricht offene Feindschaft zwischen Türken und Griechen aus, als sich Griechenland gegen die Vorherrschaft der Osmanen erhebt. In der Osternacht 1821 wird der damalige Patriarch Grigorius V. am Tor zum Patriarchat wegen Hochverrates erhängt, sein Leichnam wird ins Goldene Horn geworfen. Man hatte ihn beschuldigt, Kämpfer für die Unabhängigkeit Griechenlands unterstützt zu haben. Seit diesem Tag hält die Kirche das Tor als Zeichen der Trauer geschlossen. Die Türken benannten die Straße, an der das Patriarchat liegt, nach dem Großwesir Sadrazam Ali Pascha, der die Erhängung des Patriarchen angeordnet hatte – und so heisst die Strasse heute noch. Offiziell erkennt Ankara auch den Titel und die Funktion des Patriarchen nicht an – für die Republik Türkei ist er nur ein Pfarrer einer Gemeinde in Istanbul.

Priester gibt es für die vielen orthodoxen Kirchen und Klöster in Istanbul auch zu wenige – allein um das Goldene Horn soll es einst bis zu 350 Kirchen und Klöster gegeben haben. Nun ziehen die Geistlichen Woche für Woche von einer Kirche zur anderen, um da und dort wenigstens ab und an noch einen Gottesdienst abzuhalten.

 

Altenheim-Kapelle

 

In der Kapelle des Altersheims aber wird noch regelmäßig gebetet. Hier lebt fast jeder Zehnte der Gemeinde, das Durchschnittsalter der Griechen am Bosporus liegt weit über 50. Mittlerweile gibt es selbst im griechischen Altersheim leere Betten, meint Fotini Mayoglu, die Leiterin des Hauses. Es ist ein großer Bau auf dem Gelände des Krankenhauses einer griechischen Stiftung aus dem Jahre 1911. Viele Alte sind hier untergebracht, weil es nach dem Tode ihres Ehepartners niemanden mehr gab, der sich um sie kümmern konnte. Die Verwandten und die Kinder waren ins Ausland abgewandert. „Die meisten sind hier sehr allein, es gibt ja auch kaum jemanden, der sie besuchen könnte“.

Vasilis Vasiliadis ist 74 Jahre alt und lebt seit über 6 Jahren im griechischen Altersheim. Er hat eine besondere Geschichte, denn – in Istanbul geboren und aufgewachsen - lebte er Jahrzehnte in Griechenland. Wie so viele musste auch er 1974 seine Heimatstadt Istanbul verlassen. Warum? Darüber will er nicht reden, „es musste sein“, sagt er nur. Nur wenige wollen über die dunklen Tage der Vergangenheit sprechen. „Aber ich wollte immer zurück“.

 

Vasili-Vasiliadis

 

Er braucht Pflege, seit einem Schlaganfall vor etlichen Jahren ist er halbseitig gelähmt. „Seit ich wieder in Istanbul bin, kann ich wenigstens mit Hilfe einer Krücke wieder ein wenig gehen“, strahlt er. Auf der Istiklal Caddesi wurde er einst angefeindet, wenn er Griechisch sprach. Später aber, in Griechenland, besuchte er einen Sprachkurs für Türkisch, „ich wollte die Sprache nicht vergessen“.

Wie viele ehemalige Istanbuler Griechen in der Diaspora heute noch mit Sehnsucht an ihre Heimatstadt denken, kann man im Sommer auf dem Sportgelände des „Vereins Byzanz“ in Athen sehen. Alle zwei Jahre veranstalten die rund zwei dutzend Vereine der ehemaligen Istanbul-Griechen dort ein Festival zum Gedenken an ihre alte Heimat, mit Fotos, Vorträgen, Musik und Tanz. Dort hängen zum Beispiel Strassenkarten von Istanbuler Stadtvierteln – und davor drängen sich die Besucher. Jeder will auf der Karte mit einem Filzstift die Stelle markieren, wo er einst gewohnt hat. 4000 kamen zuletzt zu diesem Festival. „Wir sind keine Griechen, wir sind Istanbul-Griechen, das ist etwas anderes“, sagt mir einer vor dem Stadtplan von Istanbul-Bakirköy. „Wir sind ja nicht irgendwann aus Griechenland in die Türkei ausgewandert, unsere Familien lebten über viele Generationen seit 2000 Jahren am Bosporus. Unsere ganze Geschichte, all unsere Erinnerungen, all das ist in Istanbul. Wir hatten dort unsere eigene Kultur“.

Was wollt ihr hier ?

Als sie hier in Griechenland ankamen, wurden sie keineswegs mit offenen Armen empfangen. „Ich war in einem fremden Land in der Schule, und ich hatte in dieser Schule keine Freunde, denn keiner wollte mit mir etwas zu tun haben. Ich bin Ausländer, ein Türke ! So haben mich meine Mitschüler damals beschimpft“, erzählt Marina Kiriakopulo. „Auch als ich später studierte, sagte ich keinem, dass ich aus Istanbul bin. Ich log immer: Ich bin aus Athen!“. „Mir hat man gesagt: Was willst du denn hier (in Griechenland)?! Du kannst hier nicht arbeiten! Du kriegst bei uns nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung, schon gar keine Arbeitsgenehmigung!“ erinnert sich Nikolaos Uzunoglu. Er ist heute Professor an der Technischen Universität in Athen und leitet die Vereine der „ehemaligen Istanbul-Griechen“.

 

Nikolas-Uzunoglu 

 

Seit mehr als 2 Jahren verhandelt Nikolaos Uzunoglu mit Vertretern der türkischen Regierung über die Bedingungen einer möglichen Rückkehr von Istanbul-Griechen. „Ja, wir wollen zurück! Viele Länder dieser Welt haben einige dunkle Kapitel in ihrer Geschichte. Aber es gibt auch viele Beispiele dafür, dass Regierungen die Fehler der Vergangenheit eingesehen und ihrer Politik geändert haben. Ich weiss, so eine Rückkehr ist nicht einfach. Die meisten von uns haben Kinder, die sind in Griechenland aufgewachsen und viele der Jugendlichen wollen nicht in die Türkei auswandern. Aber dass wir heute mit der türkischen Regierung über eine Rückkehr überhaupt ernsthaft sprechen können, das ist ein Fortschritt, davon hätten wir vor nur 10 Jahren noch nicht einmal zu träumen gewagt.“

Vor allem erwarten die Vertreter der ehemaligen Istanbul-Griechen:

- Rückgabe der türkischen Staatsbürgerschaft, die den Istanbul-Griechen zwischen 1960 und 2000 aberkannt wurde

- Die Erstellung eines „Hilfsprogramms zur Rückführung“ für Istanbul-Griechen, dabei vor allem Hilfe bei der Stellen- und Wohnungssuche

- Hilfe bei der Wiederbeschaffung der einst enteigneten Immobilien und sonstigen Besitzes, denn Tausende mussten 1964 innerhalb von 48 Stunden die Türkei verlassen, durften lediglich 25 kg Gepäck mitnehmen.

- Hilfe vor allem im Ausbildungsbereich, im Schulwesen, Zusammenarbeit bei der Errichtung eines Forschungs- und Entwicklungszentrums der Istanbul-Griechen.

 

Minas-Vasiliadis

 

Minas, der Sohn des Herausgebers der griechischen Tageszeitung Apoyevmatini, Mihalis Vasiliadis, ist schon „zurück“ in Istanbul. Aufgewachsen in Athen, wollte er seinen Vater vor 4 Jahren nur für ein paar Tage besuchen. Der war 2005 an den Bosporus zurückgekehrt. „Ich bin seither nicht mehr nach Athen zurück“, sagt Minas. „Ich hatte mir die Türkei ganz anders vorgestellt. Ich kann mich noch erinnern, meine Lehrerin in der Grundschule erzählte uns, die Türken würden alle auf dem Boden essen, und keine Teller benutzen - und sie hat mich auch mal, als ich mich mit einem Klassenkameraden prügelte, einen „türkischen Dieb“ genannt, weil sie wusste, dass meine Eltern aus Istanbul sind.“

Wie etliche junge Griechen schaut er optimistisch in die Zukunft der griechischen Gemeinde in Istanbul. Zwar seien viele mit Blick auf den Staat immer noch misstrauisch, der könnte ja vielleicht auch bald wieder einmal eine härtere Gangart in der Politik gegenüber den Minderheiten im Land einlegen. Aber unbestreitbar: Die Atmosphäre gegenüber den Minderheiten habe sich spürbar gebessert. Sie hätten zumindest jetzt keine Angst mehr, zu sagen dass die Griechen sind, und dass sie Christen sind.

„Ohne Rückkehrer nach Istanbul, wird es unsere Gemeinde bald nicht mehr geben“, meint sein Vater. „Eine Gemeinde mit nur noch 2000 Mitgliedern und einem Durchschnittsalter von weit über 50, kann nicht überleben“. Aber wird es diese Rückkehrer auch geben? „Schauen Sie“, meint die Leiterin des Altenheimes, „wer Istanbul verlassen hat, der hat seine Heimat verlassen und seine ganze Existenz aufgegeben. Wieso sollte diese Familie nun noch einmal ihre Existenz aufgeben, um am Bosporus wieder von vorne zu beginnen“. Es gebe zwar in Istanbul inzwischen wieder 80 griechische Firmen, aber die griechischen Geschäftsleute kämen alle nur vorübergehend in die Stadt.

Vielleicht hat die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland ja sogar auch eine „positive Seite“. Nicht wenige junge Menschen sehen zur Zeit unter der Akropolis keine Zukunft für sie - und nicht wenige blicken voller Anerkennung auf die boomende Wirtschaftsmetropole am Bosporus. Dem 72 jährigen Mihalis Vasiliadis ist vor allem auch wichtig, dass die Geschichte der Istanbul-Griechen nicht in Vergessenheit gerät. Denn nicht nur in den türkischen Geschichtsbüchern, auch in den griechischen findet sich bis heute dazu kein Wort.

 Istanbul

 

Ein Dokumentarfilm von Dieter Sauter mit dem Titel "Adieu Istanbul" zum gleichen Thema hatte am 20.März 2013 Premiere auf dem Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki und war auf dem Filmfestival in Istanbul und Ankara zu sehen.