Es ist erst ein paar Jahre her, da schaute ich mich nachts noch ab und zu um, wenn ich durch die dunklen Seitenstraßen von Cukurcuma ging. Das Viertel ist ein Quartier im großen Stadtteil Beyoglu und liegt in einer Senke, jenseits der Hauptstraße von Beyoglu, der Istiklal Caddesi, und vor dem schicken Cihangir.

 

Einige Jahre erschien es von den Stadtplanern „vergessen". Um Cukurcuma herum wurden die Straßen neu gepflastert, Parkplätze angelegt, Hinweisschilder und Müllcontainer aufgestellt, in Cihangir wurden ganze Straßenzüge frisch gewischt achtet und gestrichen, die alten Mieter zogen fort, Ausländer mieteten sich ein, die Mietpreise stiegen ins absurde, wie die Preise in den neumodischen Geschäften mit französischem Käse und Naturkost. Cukurcuma aber lag wie eh und je in seiner Senke.


Selbst der Anschluss an das Erdgasnetz machte da und dort einen Bogen um das Viertel. Unterhosen und Bettlaken dienen zum Trocknen Gewehr über die Straßen und neben der alten Moschee ein paar Transparente einer rechtsnationalistischen Partei. In den Sommerferien lärmten Dutzende Schulkinder an jeder Ecke, ist am Abend gegen sieben Uhr die Handwerker mit ohrenbetäubendem Lärm ihre Rollläden aus Blech vor ihre Läden zogen.


Dann wurde es still in den spärlich beleuchteten Gassen und man musste aufpassen, dass man in der Dunkelheit nicht über einen der Müllberge stolperte, denn die Bewohner von Cukurcuma warfen – wie in vielen anderen Vororten – ihren Müll einfach in Plastiktüten vor das Haus.


Dann kamen die streunende Katzen und Hunde, danach die „Müllmänner", der auch schwarze Gestalten, die einen überdimensionalen Leinensack, aufgespannt auf ein Fahrgestell, hinter sich her zogen und den Müll nach Glas, Metall oder Papier durchwühlten, und irgendwann mitten in der Nacht kam auch der Müllwagen der Stadtverwaltung.


Das alles gibt es auch heute noch in Cukurcuma, aber wer das erleben will, muss sich beeilen. Inzwischen macht sich auch der alte Stadtteil auf, ein „neuer" zu werden. Mehr und mehr alte Fassaden verschwinden hinter Baugerüsten, man hört weniger Kindergeschrei in den Sommermonaten, den viele kinderreiche Familien sind schon in einen der Vororte gezogen.
Werbetexter haben inzwischen 150 Antiquitätengeschäfte in Cukurcuma gezählt, viele in umgebauten Werkstätten alter Handwerksbetriebe, ist eher der das „Künstlerviertel" von Istanbul, schwärmen sie.


Tatsächlich ist Cukurcuma eines der ältesten „ türkischen" Viertel außerhalb der Mauern von Konstantinopel. Vor 550 Jahren, schon kurz nach der Eroberung der Stadt durch die Türken, ließen sich hier die Osmanen nieder, ihr „Stadtarchitekt", der große Sinan, baute im 16. Jahrhundert dort sogar eine Moschee. Viele Griechen wohnten später in Cukurcuma, auch Armenier – heute leben dort noch viele „alte" Istanbuler; „alte" Istanbuler sind in einer Stadt, die in wenigen Jahren von 1 Million auf 15 Millionen Einwohner angewachsen ist, Bürger, die nicht erst vor zwei, sondern vielleicht schon vor vier Generationen an den Bosporus gezogen sind.


Dort, wo die „Dorfgemeinschaft" noch nicht wegrenoviert ist, lebt man in Cukurcuma Wien auf dem Land oder wie einst in einem traditionellen Viertel einer türkischen Kleinstadt. Man kennt sich und hat ein Auge darauf, ob eine alleinstehende Frau viel Herrenbesuch erhält; man duldet keine parkenden Autos von Fremden, trägt den Ehekrach bei offenem Fenster aus, sitzt im Sommer Abend für Abend mit den Nachbarn auf der Treppe vor dem Haus oder auf einem wackeligen Stuhl vor der Teestube, würfelt bei einem Brettspiel oder blickt stundenlang auf die Autos und Fußgänger, die an einem vorbeiziehen; man geht nicht nur zum Haare schneiden, sondern auch zum rasieren zum Friseur, sperrt einfach die Straße für den Verkehr, wenn eine Hochzeit gefeiert wird oder der Sohn vom Militärdienst nachhause kommt; man schenkt sich an Feiertagen gegenseitig Süßigkeiten, es gibt noch die Frau, die etwa 2 Dutzend Straßenkatzen in Schuhkartons vor dem eigenen Haus durch füttert, und die alltäglichen, die jeden Tag zur gleichen Zeit am Fenster erscheint; der Krämer an der Ecke bringt einem die bestellte Ware ins Haus oder legt sie in den Kopf, den die Hausfrau an der Hauswand nach oben zieht, bezahlt wird bei Gelegenheit; man sagt zu dem alten Teegarten an der Ecke noch „Dorfcafé", obwohl er längst ein In-Treffpunkt vor allem der Jugend aus Cihangir ist, und manchmal treffen sich die Hausfrauen noch im Hamam,. Vormittags um 11, wenn nur Frauen zugelassen sind, und tauschen bei ein paar Süßigkeiten den letzten Klatsch aus natürlich haben alle längst eine Wanne oder Dusche zuhause, keiner geht deshalb in ein öffentliches Bad. Aber es gibt auch in Cukurcuma noch Frauen, die sich lieber in einem Hamam zusammensetzen als in einem Teehaus, den eigentlich gehört sich das nicht für eine anständige Frau, ohne Begleitung des Ehemanns in einem Teehaus zu sitzen.