Das 34. internationale Filmfest in Istanbul ist geplatzt. Die ‚Untertanen' wollen sich nicht mehr mit den Fallstricken „osmanischer Vorschriften" und „Regeln" abfinden.

Das hätte keiner erwartet: Eine Hundertschaft internationaler Filmfachleute reist an den Bosporus, die Kataloge sind gedruckt, die Plakate aufgehängt, die Säle gemietet und die Bankette geordert – aber dann verkündet die Leitung des 34. Istanbuler Filmfestival: Wir zeigen zwar noch den einen oder anderen Streifen, aber alle Wettbewerbe sind abgesagt. Die internationale Jury ist abgereist. Selbst der Zuschauerwettbewerb einer großen Tageszeitung findet nicht statt.


Tut uns leid, sagt die Festspielleitung, aber viele Regisseure, die mit ihren Filmen hier vertreten sein sollten, sprechen von Zensur, weil ein Dokumentarfilm über das Leben der PKK Kämpfer in den nordirakischen Bergen nicht gezeigt werden darf. Das Kultusministerium hatte uns darauf hingewiesen, dass die laut Gesetz notwendigen Unterlagen für eine Vorführung des Filmes nicht vorliegen. Zeigen wir ihn trotzdem, dann drohen empfindliche Strafen. Hoffentlich ist das wenigstens ein Anlass, die Regeln für die Filmfestivals neu zu überdenken.


Soweit so bekannt.


Das Unbekannte steckt in dem harmlosen Nebensatz „die Regeln für die Filmfestivals". Die sind ein brillantes Beispiel „osmanischer Bürokratie" – mit der ein Landesherr die Kulturschaffenden mit Vorschriften und Verordnungen lenken und kontrollieren kann.


Es beginnt, wie immer, ganz harmlos. Wer auf einem Festival einen Film zeigen will, muss mit einem Dokument belegen, dass er alle Rechte an diesem Streifen besitzt. Wer sollte dagegen etwas sagen können. Normalerweise genügt dazu eine schlichte Erklärung. In der Türkei genügt das nicht. Am Bosporus muss der oder die Filmschaffende dafür eine „Vorführgenehmigung" vorlegen. Und was verbirgt sich hinter diesem schlichten Begriff?


Dazu sind zunächst alle Unterlagen des Filmes einzureichen, wie die Abrechnungen für die Produktionskosten oder das Drehbuch. Gibt es im Film zum Beispiel Szenen, die im Drehbuch gar nicht oder anders aufgeführt sind, kann das ein Grund sein, wieso eine Vorführgenehmigung verweigert wird.


Da aber kein Film wortwörtlich so gedreht wird, wie er im Script steht, sitzen Praktikanten und Studenten oft nächtelang am Computer und schreiben nach den Dreharbeiten alle Dialoge des Filmes noch einmal ab – als neues Drehbuch. Bei Dokumentarfilmen lässt sich anders ein „Drehbuch" sowieso nicht schreiben. Und was, wenn man bei diesem „Betrug" erwischt wird?


Dafür steht der Regisseur oder die Regisseurin gerade. Sie müssen Seite für Seite abstempeln, ja richtig: Abstempeln. Keiner weiß, wozu der Stempel gut ist, außer für die kleinen Geschäfte, die für solche Gelegenheiten Phantasiestempelchen in Hartgummi schneiden. Neben dem Stempel gehört noch die Unterschrift des Regisseurs oder der Regisseurin. Es sollte keinen wundern, wenn das eine oder andere Drehbuch nicht akzeptiert wird, weil die Unterschrift nicht mit bauer, sondern mit schwarzer Tinte geleistet war. Blau muss es sein, nicht anders. Solche Ablehnungen sind belegt.


Dann wird der Film einer Jury vorgeführt. Dabei geht es nicht um Zensur. Ablehnen kann die Jury den Film nicht. Sie soll ihn „bewerten", und die Bewertung kann der Filmschaffende nicht ablehnen. Da sitzen ein alter Universitätsprofessor, eine regierungsamtlich anerkannte Filmschaffende und ein Vertreter des Kultusministeriums vor einem Vorführgerät – und legen fest, wer den Film sehen kann: Freigegeben ab 6, oder ab 12 Jahren? Wird im Film geflucht, frei ab 16, oder gibt es eine Szene mit Drogen, oder mit Sex? Bei „freigegeben ab 18" steht der finanzielle Flop des Films fest, es gibt auch eine Kategorie „21+", dann darf der Film eigentlich nur noch unter dem Ladentisch eines Sexshops verkauft werden.


Etliche solcher „Bewertungen" sind früher z.B. schon daran gescheitert, weil sich die Jury geweigert hatte, eine DVD anzusehen. Sie bestanden auf einer 35 mm Kopie. Die kostet aber für einen 90 Minuten-Film bis zu 20 tsd Euro – eine Summe, die manches freie Filmteam nach all den Schulden, die es für die Filmproduktion aufgenommen hat, nicht mehr stemmen kann.


Andere Filmteams kamen gar nicht so weit. Ihnen fehlte eine besonders schwer erhältliche „Eintrittskarte" ins Reich der Filmschaffenden: Der Nachweis einer Produktionsfirma. Um diesen Nachweis zu erhalten, muss man ... Zeit und Geld haben. Man kann nicht einfach eine Filmproduktionsfirma anmelden. Man meldet eine Produktionsfirma an – und ist dann ein „Kandidat" für eine Produktionsfirma. Als 'Kandidat' zahlt man natürlich Steuern, auch wenn die Firma keinen Umsatz macht – und man zahlt Beiträge für den Verband der Produktionsfirmen. „Kandidat" ist man für maximal drei Jahre, dann muss man einen vorführfähigen Film vorweisen. Um den aber vorführen zu können, muss man außerdem nachweisen, dass man keine Steuerschulden hat und keine Beiträge beim Berufsverband ausstehen, selbst wenn man nur mit den Einnahmen aus der Vorführung die Schulden bezahlen könnte.


Das sind die Voraussetzungen für eine „Vorführgenehmigung". Der Dokumentarfilm über das Leben von PKK Kämpfern in den nordirakischen Bergen hatte diese Vorführgenehmigung nicht. Filme, die im Ausland produziert wurden, benötigen dieses Dokument nicht. Andere türkische Filme, die auf dem Festival gezeigt werden sollten, hatten dieses Dokument anscheinend auch nicht vorgelegt, aber bei denen wurde dieses Zertifikat nicht angemahnt.

 

 

Wer seinen Film nicht vollständig selbst finanziert, der muss einen privaten Finanzier finden - oder staatliche Filmförderung beantragen. Die bekommt man aber nur, wenn man ein „moralisch einwandfreies", ein „förderungswürdiges" Projekt vorschlägt.. So erhält vielleicht ein Musiker, der schon mal eine Wahlkampfmusik für die Regierungspartei AKP komponiert hat, für seine neue Filmmusik eine Förderung von mehreren zehntausend Euro, während ein Film über einen schwulen Kurden im Südosten der Türkei mit keiner Lira gefördert wird. Wird ein Film gefördert, von dem man nicht so genau weiß, „was daraus wird",  kann das Kultusministerium die Förderung auch zurückverlangen, wenn der Film z.B. keinen bedeutenden internationalen Preis erhält. Steuern muss man auf die Förderung aber auf jeden Fall bezahlen.


Was bleibt: Die Filmschaffenden halten sich an die jeweils „geltende Moral" – oder sie sind reich. Dann kann die Verwaltung, wenn sie will, die Steuern der Firma prüfen, mit der das Geld für den „freien Film" verdient wird, oder man kontrolliert, ob dort auch alle Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden.


Das alles sind übrigens keine Regeln, die der Staatspräsident Tayyip Erdogan erfunden hat. Es ist das ganz normale Dickicht an Vorschriften, das fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens seit der Zeit der osmanischen Herrscher unüberschaubar und nicht selten unkalkulierbar macht. Neu ist auch nicht, dass sich die jeweils Herrschenden am Bosporus seit Menschengedenken dieser Regeln hier und da meisterhaft bedienen.


Neu ist, dass die ‚Untertanen' das offenbar nicht mehr klaglos hinnehmen wollen. Es ist das erste Mal, dass ein Filmfest wegen dieser Regeln abgebrochen wird, ein ‚internationales Filmfest', das heisst, auf großer Bühne. Erst letztes Jahr wurde auf dem Filmfest in Antalya am Mittelmeer ein Streifen über die Gezi-Proteste aus dem Programm gekippt. Zensur, Zensur ! wurde da und dort grimmig gegrummelt – und dann lief das Filmfest wie gewohnt weiter. Selbst diesjährige Protestierer in Istanbul waren letztes Jahr in Antalya noch eingeknickt. Kein Wunder, dass mancher Politiker in Ankara zusehends nervös wird.