Dieter Sauter
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Eine gläubige Jugend für Tayyip Erdogan

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Erstellt: 15. Oktober 2016

Wer hört schon Radio?! Falsch, in der Türkei soll es 32 Millionen Radiohörer geben. Ein Sender verfolgt dabei ein „strategisches Ziel“.

161015 schild vor moschee

 

Wer hört schon Radio?! Falsch! Geht es nach der Zahl der Radiosender, ist die Türkei ein Radioland. Behörden und Medien-Studenten zählen gut 1000 verschiedene Sender – allein in Istanbul sind es weit übe 100. In ganz Deutschland kann man gerade mal 410 empfangen


Weit mehr als die Hälfte der türkischen Radiosender sind sog. Musiksender. Dort dudelt stundenlang türkische Popmusik, oft ohne Moderator –und wer nach Gema-Gebühren fragt, schaut meist in vollkommen verständnislose Gesichter. Es sind meist regionale Programme, meist senden auf einem Kanal weniger als 10 Angestellte ein “ Programm” 7 Tage die Woche, rund um die Uhr. Da und dort arbeiten Studenten auch umsonst, manche bringen sogar ihre eigene Musik ins Studio.

 

Daneben gibt es zahlreiche Spartenkanäle, wie einen Sender in Istanbul, der sich auf Verkehrsmeldungen spezialisiert hat. Da wird nicht ab und an die Musik unterbrochen, um Verkehrsstaus zu melden – sondern die Meldungen über Verkehrsstaus werden ab und an durch Musik unterbrochen, wenn dazu Zeit bleibt, und dafür bleibt in Istanbul selten Zeit. Sogar der Generalstab der türkischen Armee wollte vor einigen Jahren einen eigenen Radiosender betreiben –die Polizei hat ihren eigenen Sender schon, das Polizeiradio, 24 Stunden am Tag, landesweit. Es ist nach dem staatlichen Rundfunk TRT die älteste Radiostation der Türkei. Seit 1952 ist sie auf Sendung.


Tatsächlich war das Polizeiradio einmal der meistgehörte Radiokanal - warum? Weil nur im Polizeiradio „verbotene Lieder“ zu hören waren. Bis weit in 80iger Jahre musste jedes Lied, das im Radio gespielt wurde, von einem staatlichen Kontrollgremium freigegeben werden. Arabeske Musik, also Musik mit Anklängen an die arabische Kultur, war verboten. Erlaubt war nur „Türkisches“, von der Klassik bis zum türkischen Schlager. Doch gerade die arabeske Musik war besonders beliebt. So erteilte das Kontrollgremium manchmal für besondere Sendungen zu Silvester zum Beispiel eine „Ausnahme“. Einzig das Polizeiradio hielt sich nicht an das Verbot – und konnte sich das leisten. Gegen die Polizei wagte damals nicht einmal eine staatliche Kontrollkommission vorzugehen. Doch die Zeiten sind lange vorbei. Inzwischen hört das Polizeiradio nicht einmal jeder Polizist. Die meisten Zuhörer haben heute die Musikkanäle.


Und dann? Dann wird es ungewöhnlich. Auf Platz zwei in der Beliebtheit der Zuhörer rangieren die Sender, die sich mit dem islamischen Glauben beschäftigten. Ganz vorne dabei: Das Diyanet-Radio. Wörtlich übersetzt heisst das schlicht: “Religions-Radio”. Es ist einer der jüngsten Spartenkanäle am Bosporus. Seit Juli 2013 ist er zu hören.


Eigentlich ist es der Radiokanal eines Ministeriums in Ankara. Auch das ist in der Türkei anders, als in anderen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung: Das Land hat eine staatliche Behörde, die allen Moscheen vorsteht. ‘Behörde’ klingt fast so klein wie ‘Büro’. Tatsächlich hat das Ministerium weit mehr als 100.000 Beschäftigte und ein Jahresbudget von bald 2 Mrd Euro.
Usprünglich war sie vom Republikgründer Atatürk eingerichtet worden, um die Moscheenvereine und Imame unter Kontrolle zu halten. Sie sollten sich aus der Politik endgültig raushalten. Schließlich wurden sogar ihre Predigten zentral verfasst und die Imame mussten sie beim Freitagsgebet ihrer Gemeinde vortragen. Die Imame selbst wurden zu Angestellten des Staates. Der Prediger Fethullah Gülen, zur Zeit der Staatsfeind Nummer 1 am Bosporus, war übrigens auch einmal einer dieser Staats- Imame.


2010 horchte die westliche Welt auf: Der Vorsitzende der Religionsbehörde, Ali Bardakoglu, wollte das Diyanet vom Staat unabhängig sehen. Damit wäre die staatliche Behörde so etwas wie weltweit die erste “islamische Kirche” geworden. Aber nur einige Wochen später wurde Ali Bayramoglu durch Mehmet Görmez ersetzt. Dessen Stellvertreter, Prof. Dr. Mehmet Emin Özafşar, verkündete bald darauf (2012): Die Religionsbehörde habe einen Strategieplan 2012-2016 verabschiedet, um dem Regierungschef Tayyip Erdogan eine „gläubige Jugend heranzuziehen“. Erdogan war damals Ministerpräsident.


Im gleichen Jahr ging das Diyanet TV auf Sendung, ein Jahr danach der Radiokanal. Der hat nun deutlich mehr als 10 Angestellte, denn das Diyanet Radyo sendet ein Programm, dem man anhört, dass nicht mit Geld gespart wird.


Es gibt nicht nur regelmäßig ausführliche Nachrichten. Täglich wird auch ein Morgenmagazin gesendet mit Beiträgen und Schaltgesprächen und Interviews zu aktuellen Themen des Tages – und nicht nur zu religiösen Fragen. Es gibt eine regelmäßige Kultursendung: Da wird z.B.die Geschichte eines Denkmals, eines Monumentes oder einer Moschee erzählt oder eine Servic-Sendung das “Radio-Krankenhaus”. Vielleicht ist der Sender auch deshalb so beliebt, weil er – anders als alle Musikkanäle - ein vielfältiges Programm sendet, das auch diesen Namen verdient

 

Und das ist nur das Gerüst für die Sendungen, die sich ausschließlich mit religiösen Fragen befassen.

 

Bei fast jeder Sendung versuchen die Redakteure die Hörer mit einzubeziehen. Sie werden zugeschaltet, können Fragen stellen, werden um ihre Meinung gefragt, es gibt eine besondere Telefonnummer, eine facebookseite und einen twitter-account und eine Nachrichtenseite im Internet. Die Fragen sind alles andere als weltfremd. Sind Tatoos unislamisch ? (Ja, sind sie, wer welche hat, sollte sie entfernen) Augenbrauen Zupfen? (unislamisch) Selfies ? (unislamisch) Ist Gewalt gegen Frauen in der Familie erlaubt ? (Nein, das ist eine große Sünde – aber: Frauen die verprügelt wurden, sollten zum Imam gehen und nicht zur Polizei) Dürfen sich Frauen von Männern, die im Gefängnis einsitzen, scheiden lassen ? (Ja, aber nur bei langjährigen Haftstrafen) Darf man auch beten, wenn man betrunken ist ( Ja, man darf ) Bricht ein Gläubiger das Fastengebot im Fastenmonat Ramadan, wenn er zufällig bei einem Polizeieinsatz Tränengas schluckt ? (Nein)

 

So sanft die Musik zwischen den Beiträgen klingt, so klar und unüberhörbar sind mittlerweile die politischen Botschaften in zahlreichen Beiträgen.

 

So kennen die “Geschichtsprogramme” kein kritisches Wort über die Politik der Osmanischen Sultane. Gesendet wird: Die Türken seien auf dem Balkan noch heute überall sehr beliebt, denn das Osmanische Reich habe immer eine Politik im Interesse der Völker des Balkans verfolgt. Dass die Truppen der Osmanen in Befreiungskriegen vom Balkan vertrieben wurden hört man nicht. Oder den Zuhörern wird erläutert: Die Meinung der Religionsbehörde sei gewichtiger als das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

 

Bekanntlich wurde nach dem gescheiterten Putschversuch von den Minaretten der knapp 82.000 Moscheen im Land aus die Bevölkerung zur “Wache über die Demokratie” auf die Straßen gerufen. Ungeklärt blieb, wer dafür die Anweisung gab. Seither ist das Diyanetradio als Sprachrohr der AKP Regierung deutlicher hörbar als je zuvor. Ein Imam wird entlassen, weil er sich auf einer Facebookseite kritisch über Tayyip Erdogan geäußert hatte. Der Chef der Religionsbehörde, Mehmet Görmez,will keinen islamischen Geistlichen auf der Beerdigung eines Putschisten zulassen.Der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, genießt Aufmerksamkeit, als er einen Monat vor dem Putschversuch eine Umfrage veröffentlicht, wonach 52 % der Passagiere in der Metro einen besonderen Waggon für Frauen verlangten. Der Rechtsanwalt aber, der vor wenigen Tagen berichtete, im Gefängnis des Istanbuler Stadtteils Maltepe würden minderjährige Häftlinge geschlagen, wenn sie nicht beten, der fand kein Gehör.

 

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