Hat Erdogan die Bundesregierung in der Tasche und Davutoglu Europa in die Knie gezwungen, wie regierungstreue türkische Meinungsmacher titeln?

 

Haben die Merkel-Kritiker recht? Küsst die kleine deutsche Bundeskanzlerin nun dem übermächtigen türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan und seinem Regierungschef Ahmet Davutoglu die Füße?

Man muss das Land am Bosporus aus großer Ferne betrachten, um eine ‚mächtige’ Türkei zu sehen (siehe Artikel (Außenpolitik-EU) : Der empfindliche Grobian). Es ist vor allem die Schwäche der Europäischen Union, die Ankara so stark erscheinen lässt.

Jahrelang hatte Brüssel, und auch das Ratsmitglied aus Berlin, das Elend der Flüchtlinge in der Türkei einfach ignoriert - bis sich Hunderttausende aus Verzweiflung nach Europa aufmachten (siehe Artikel (Innenpolitik) : ‚Keine Flüchtlinge mehr’ vom 29.11.2014). Nur dadurch wurde die türkische Regierung zum ‚Schleusenwärter’ in der Flüchtlingskrise. Es war die Schwäche der Europäischen Union, die zu einem umstrittenen Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei führte (siehe Artikel (Außenpolitik-EU) : Die europäische (Auf)Lösung), das alle EU Mitglieder beschlossen haben, an das sich aber längst nicht alle halten wollen.

Nur deshalb ist die Reise des EU Ratspräsidenten Donald Tusk und der deutschen Bundeskanzlerin an den Bosporus überhaupt notwendig. Sie versichern der türkischen Regierung: Wir machen das ! – und zwar so, wie vereinbart. Wieso Ankara daran zweifeln könnte? Auch die Türken wissen, wie es in Griechenland um die Hilfe aus der EU bestellt ist. 9000 Flüchtlingsexperten waren Athen zugesagt worden – bislang sind nicht einmal 200 vor Ort. 1.500 Frontex-Experten sollten Griechenland helfen, die EU Außengrenzen zu sichern – bis heute sind noch nicht einmal 20 angekommen. Nach wie vor gibt es nur Zank in Europa, wie die Flüchtlinge aus der Türkei in der EU verteilt werden sollen, das Geld, das die EU der Türkei als Flüchtlingshilfe zugesagt hatte, fließt zögerlich – und die Debatten über visafreies Reisen für türkische Staatsbürger sind unüberhörbar.

Was, wenn der Flüchtlingsdeal mit Ankara platzt?

Es gibt neben den regierungstreuen Ideologen am Bosporus auch Nachdenkliche. Die türkische Regierung poltere zwar lautstark von der „pay-back-time“ für Europa, sollte sich die EU nicht an die Abmachungen halten – aber hieße das nicht für die Türkei, unser eigenes Flüchtlingsproblem fliegt uns dann ebenfalls um die Ohren – meint Semih Idiz in der Zeitung Hurriyet?

Die Zeiten sind vorbei, als Ahmet Davutoglu im Februar 2012 auf der 48. Münchner Sicherheitskonferenz zum Bürgerkireg in Syrien sich das große Wort traute: Wenn nötig, nehmen wir das gesamte syrische Volk bei uns auf.

Offiziell spricht die türkische Regierung heute von 2,6 Mio Flüchtlingen in ihrem Land - aber selbst die Familien- und Sozialministerin Sema Ramazanoglu rechnete bereits im Januar dieses Jahres mit 3 Millionen. Nur 15 % dieser Flüchtlinge leben in Flüchtlings-Camps und werden dort vom Staat verpflegt und medizinisch versorgt. Ihre Kinder gehen dort zur Schule.

Gut 2,5 Millionen schlagen sich aber irgendwo im Lande durch, bei Verwandten, bei Freunden - oder auf der Straße. Viele von ihnen sind nicht einmal registriert, könnten also nicht einmal um Hilfe bitten. Die Familienministerin rechnet damit, dass in den letzten Jahren außerdem 150.000 Kinder in Flüchtlingsfamilien auf türkischem Staatsgebiet geboren wurden.

Auch die Türkei hat eine Flüchtlingskrise, und kein türkischer Politiker ist so borniert zu glauben, dass man alle Flüchtlinge einfach nach Europa schicken könnte.

Auch wenn nur selten darüber gesprochen wird: Seit Jahren verschärft die türkische Flüchtlingskrise alle sozialen Probleme im Land, sei es auf dem Wohnungsmarkt, dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen oder Bildungswesen. Besonders schwer ist das für die armen Regionen des Landes, im Osten der Türkei. Dort aber leben nach wie vor rund 80 % aller Flüchtlinge, so das sozialwissenschaftliche Institut SETA in einer im Februar veröffentlichten Studie.

In der Provinz Urfa mit rund 2 Millionen Einwohnern leben zum Beispiel etwa 400.000 Flüchtlinge. Das wäre so, als müsste das Land Berlin an die 700.000 Flüchtlinge unterbringen. Bekanntlich schien Berlin im letzten Jahr schon mit knapp 60.000 Flüchtlingen hoffnungslos überfordert.

Das Amt für Statistik (TÜIK) in der Türkei glaubt, dass vor allem Flüchtlinge, die schwarz arbeiten, dafür verantwortlich sind, dass inzwischen mehr als 3 Millionen Türken arbeitslos gemeldet sind. Türkische Betriebe beschäftigten rund 400.000 syrische Flüchtlinge illegal und bezahlten diese weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Türkische Arbeitnehmer haben bei dieser Konkurrenz keine Chance. In die Kritik gerieten vor einigen Wochen dabei auch das schwedische Unternehmen H&M und Next aus Großbritannien, weil für sie in türkischen Zulieferbetrieben syrische Minderjährige zu Hungerlöhnen arbeiteten.

Tatsächlich sind mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge aus Syrien (54%) jünger als 18 Jahre, 750 tausend wären schulpflichtig, aber gerade mal gut 10 % von ihnen gehen zur Schule. Wer will diese Generation später wo integrieren ?

Natürlich gibt es auch seit Jahren Proteste türkischer Bürger wegen dieser Probleme. Wahlanalysten wiesen schon im Juni letzten Jahres darauf hin, dass auch die Flüchtlingsfrage mit dazu beigetragen hatte, dass die Regierungspartei AKP in einigen Regionen deutlich an Stimmen einbüßte. Seither wurde kaum mehr über das Flüchtlingsthema im Land berichtet.

„Die Lösung heißt Integration“, meinte im Januar Familienministerin Sema Ramazanoglu – und war damit die erste türkische Politikerin, die dieses Wort in den Mund nahm. In der Hand hielt sie dabei eine Umfrage, wonach 85 % der syrischen Flüchtlinge – zumindest unter den gegebenen Bedingungen – nicht wieder in ihre Heimat zurückwollen.

Ankara braucht also wie die EU dringend Hilfe, um mit der eigenen Flüchtlingskrise fertig zu werden. Außer Europa scheint aber niemand bereit, dem Land beizustehen. Zwar hatte die Türkei gerade die 56 Mitglieder der Organisation Islamischer Staaten (OIC) zu Gast in Istanbul – darunter die reichsten Ölproduzenten. Doch nicht einmal der einzige Verbündete, der Ankara in der Region geblieben ist, Saudi Arabien, ist bereit, Flüchtlinge aufzunehmen oder die Türkei in der Flüchtlingsfrage finanziell zu unterstützten. Nicht umsonst war Ahmet Davutoglu erst vor wenigen Tagen beim Europarat, um das immer trüber erscheinende Image seines Landes wieder ein bisschen aufzupolieren.