Kein Rabatt in Sachen Menschenrechte für die Türkei! Mit Ankara Klartext reden! Worum geht es bei diesen Formeln ?

Schon im März schrieben die türkischen Zeitungen von einem „Sieg“, da war das EU- Türkei Flüchtlingsabkommen noch nicht einmal unterzeichnet. Gemeint war damit das Zugeständnis der EU, visafreies Reisen in den Schengen-Raum für türkischen Staatsbürger schon ab Juni zu ermöglichen.

Letzte Woche erschienen dann die ersten Artikel mit der Überschrift: Das sind die schönsten Orte, an die Sie in den Ferien ohne Visum reisen können – dann folgten ansprechende Bilder aus Jordanien, Mazedonien, Serbien, Libyen, Iran, Katar und Marokko. ‚Hofft nicht auf die Visafreiheit!’ so die Überschrift – gemeint war visafreies Reisen nach Europa.


Fast alle Politiker in der EU haben mittlerweile die gleichen Formeln auf ihren Redezetteln: Es gibt für die Türkei keinen Rabatt in Sachen Menschenrechte. Man muss mit der Türkei Klartext reden. Auch Martin Schulz, der nach seiner Zeit als EU Parlamentspräsident offenbar in Deutschland ein hohes Amt anstrebt, lässt seit Tagen auf allen Fernsehkanälen und Zeitungen Unbeugsames hören: Die EU gibt der Türkei nicht nach ! Bekanntlich habe die Türkei zugesagt für die Beendigung des Visumzwanges 72 Kriterien zu erfüllen, darunter eben auch die Änderung der Antiterrorgesetze.


Nun ist es ja nur recht und billig, wenn ein Vertragspartner fordert, die andere Seite möge bitte auch das liefern, was sie vorher zugesagt hatte. Das bleibt auch gerechtfertigt, obwohl gerade die EU sehr große Probleme hat, diese legitime Forderung in ihren eigenen Reihen durchzusetzen, weil immer häufiger immer mehr EU Mitglieder sich an gemeinsam gefasste Beschlüsse einfach nicht halten.


Muss Erdogan jetzt liefern?


Tatsächlich ist das visafreie Reisen für die Anhänger des türkischen Staatspräsidenten und der Regierungspartei AKP ein ganz unbedeutendes Problem. Leicht ist es nicht, in der Türkei einen Pass zu bekommen. Zunächst ist er ziemlich teuer, manche meinen sogar, er sei der teuerste weltweit. Tatsächlich kostet ein 10 Jahre gültiger Pass umgerechnet rund 180 Euro.


Das ist sicher ein wichtiger Grund, wieso von 78 Millionen Türken nur 7 Millionen überhaupt je einen Pass beantragt haben. Und weil ein Pass, der nur zwei Jahre gültig ist, schon für umgerechnet rund 100 Euro ausgestellt wird, ist nicht einmal die Hälfte der rd 7 Millionen Pässe derzeit gültig. Lediglich rund drei Millionen Türken könnten zur Zeit überhaupt ins Ausland reisen – aber nicht in den Schengen-Raum der EU. Käme die Visafreiheit, dann müsste selbst die Mehrheit der Türken, die schon einen Pass haben - einen neuen beantragen. Die EU Vereinbarung über visafreies Reisen schreibt nämlich einen Pass mit biometrischen Daten vor, z.B. einen Pass mit auf einem Chip gespeicherten Fingerabdrücken.


Bekanntlich sind die Anhänger der Regierungspartei AKP überwiegend aus den einkommensschwächeren Schichten. Die meisten waren noch nicht einmal in den türkischen Ferienorten wie Bodrum oder Antalya, spotten türkische Kommentatoren oder haben gar einen Pass.

Unterdessen habe sich die Zahl der reichen Türken, die einen zweiten, einen ausländischen Pass haben, in den letzten drei Jahren verdoppelt, so Togla Habali, der Direktor einer Investment-Beraterfirma Henley & Partners, die auch „Residence and Citizenship-Planning“ in ihrem Programm haben. Die Türken bevorzugten Malta, das Investoren sofort dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung oder auch einen Malteser Pass anbiete, womit dann bekanntlich Wohnen und Arbeiten in der gesamten EU möglich sei.


Und was ist erreicht, wenn Ankara liefert und die Antiterrorgesetze ändert? Natürlich sind diese Gesetze mehr als bedenklich. Mit diesen Paragrafen sind längst nicht mehr nur gewaltbereite Fanatiker gemeint. Richtlinien wurden erlassen, wonach Polizei und Justiz immer häufiger Erdogan-Gegner als ‚Terroristen’ oder ‚Unterstützer von Terroristen’ ins Visier nehmen können. Wäre die Änderung dieser Gesetze deshalb ein Fortschritt für die Demokratie in der Türkei? Leider ist das ganz und gar nicht gesichert – und das wissen alle, die jetzt so beinhart auf einer Gesetzesreform beharren.


In den 90iger Jahren war das böse Wort von der „separatistischen Propaganda“ oder die „Beleidigung Atatürks“ die Losung jener Zeit, um gegen unliebsame Meinungsäußerungen vorzugehen. Auch damals war die Meinungsfreiheit unter Druck, Bomben flogen in Verlagshäuser und Dichter wie Yasar Kemal standen vor Gericht. Dann war es der berüchtigte Paragraf 312 („Beleidigung des Türkentums“), wonach unliebsame Äußerungen jeder Art ein juristisches Nachspiel hatten. Dann war es der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches (Verunglimpfung des türkischen Staates). Wegen dieses Paragrafen stand auch der Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk vor Gericht. Jedes Mal forderte die EU eine Abschaffung oder Änderung dieser Gesetze – ohne Wenn und Aber, als ob damit die Demokratie in der Türkei gerettet würde. Das Ergebnis ist bekannt: Inzwischen wird der Präsident „beleidigt“ oder der Islam „beleidigt“ oder „Geheimnisse“ werden „verraten“.


Es sieht so aus, als ob das Fuchteln mit kompromisslosen Formulierungen Richtung Ankara vor allem der Imagepflege bei den eigenen Wählern dienen sollen. Der türkische Staatspräsident hat mit seinen törichten Beleidigungsklagen in Europa zu einer Stimmung mit beigetragen, bei der wohl viele denken: Gegen Erdogan geht immer ein bißl was!

Deshalb sagt auch keiner, was es heissen soll, wenn er das große Wort vom „Klartext“ schmettert: Dass Ankara alles anders macht, wenn mal ein unmissverständlicher Rüffel aus Brüssel oder Berlin erschallt? Die Möglichkeit nachhaltigen Einfluss zu nehmen hat die EU schon vor 10 Jahren aus der Hand gegeben, als sie– vor allem auf Drängen aus Berlin und Paris – die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei praktisch ausgesetzt hat.


Klartext ist eher: Die EU kann ihre Außengrenzen im Osten ohne Zusammenarbeit mit der Türkei nicht schützen. Warum ? Weil die Mitgliedsstaaten der EU nicht an einem Strang ziehen. Und sie hat aus demselben Grund dazu auch keine Alternative. Es ist der EU nicht einmal gelungen, innerhalb von zwei Monaten das Flüchtlingschaos in Griechenland bei Idomeni zu beseitigen, obwohl auch das schon lange vollmundig versprochen ist. Deshalb gibt es als Notnagel das fragwürdige Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei. (siehe auch Artikel (Außenpolitik-EU): Die europäische (Auf-)Lösung). Deshalb sollen Staaten wie Algerien entgegen aller EU Regeln „sichere Herkunftsländer“ werden, obwohl deren demokratische Verfassung noch deutlich hinter der Türkischen rangiert.


Klar ist auch: Die türkische Regierung braucht die EU und die Hilfe aus der EU, (siehe auch Artikel (Außenpolitik-EU): Wer hat die Flüchtlingskrise). Aber Tayyip Erdogan hat es nicht eilig, die Visafreiheit in trockenen Tüchern zu präsentieren. So wird es wohl in den kommenden Monaten einen „Kompromiss“ geben. Klar ist aber auch: Kommt es zu keinem Kompromiss, hat die EU den größeren Schaden als die Türkei.