Dieter Sauter
  • Fotos
  • Filme
  • Texte
    • Alle Texte
    • Innenpolitik
    • Innenpolitik Kurden
    • Aussenpolitik
    • Aussenpolitik EU und D
    • Kultur und Geschichte
  • Bücher

Brüssel mahnt, Berlin warnt – und Ankara ?

Details
Erstellt: 06. November 2016

Abgeordnete in Handschellen. Die Türkei, ein Land im Ausnahmezustand? Wie könnt ihr es zulassen, dass sich eine Regierung in Europa so aufführt, hört man empört.

 

 

140906 istanbul 1001

 

Alarmierend, Ausnahmezustand, Bürgerkrieg, Ende der Demokratie, Diktatur - inzwischen sind alle Warnsignale aufgezählt. Die Berliner Politik habe sich getäuscht. Keiner habe damit gerechnet, dass der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan die Türkei derart radikal „umgebaut“? Tatsächlich? Jeder, der auch nur ab und an aufmerksam einen Zeitungsartikel über die Politik in Ankara gelesen hatte, wusste: So und nicht anders wird es kommen.


Schon im Dezember 2012 traf sich Tayyip Erdogan mit 30 AKP Abgeordneten, um mit ihnen über die Aufhebung der Immunität der kurdennahen Abgeordneten zu sprechen. Im Februar dieses Jahres forderte Erdogan zum ersten Mal öffentlich, die Immunität der HDP Abgeordneten aufzuheben. Im März beschuldigte er den HDP Vorsitzenden Selahattin Demirtas, ein Terrorist zu sein. Der organisierte damals einen Protestmarsch gegen den Ausnahmezustand im zumeist von Kurden bewohnten Südosten der Türkei. Das sei ein Akt des Terrors, so Erdogan – und er forderte die Staatsanwaltschaft auf, gegen Demirtas vorzugehen. Natürlich wusste er, dass der Abgeordnete Demirtas parlamentarische Immunität genießt.


Schon im Mai aber wurde die Verfassung mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit im Parlament geändert. Damit war die Immunität der Abgeordneten aufhoben. Zwei Wochen darauf wies das Verfassungsgericht eine Klage gegen die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten ab. Wieder zwei Wochen später macht der AKP Justizminister Bekir Bozdag der Staatsanwaltschaft den Weg frei, um gegen 152 Abgeordnete vorzugehen. Damit die Staatsanwaltschaft auch weiß, gegen wen sie welches Verfahren eröffnen soll, übergibt ihr der fleißige Justizminister 117 Dossiers. Fünf Tage darauf – es ist der 15. Juni 2016 – stürmt die Polizei die Privatwohnung der HDP-Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdag mit einem Durchsuchungsbeschluss. Angeblich ginge es dabei aber nicht um sie, sondern um ein Verfahren gegen eine militante sozialistische Partei (ESP). Am 3. Juni erklärt der Staatsanwalt in Ankara schließlich, er werde Figen Yüksekdag auch mit Gewalt vorführen lassen, wenn sie zu einem angesetzten Verhörtermin nicht erscheine.


Seither war die HDP faktisch als Partei im Parlaments zu Ankara ‚ausgeschlossen’. Obwohl die HDP eine Resolution gegen den Putschversuch mitgetragen hatte, dankte Erdogan für diese Unterstützung der Republik allen Parteien, aber nicht der HDP . Sie durfte auch nicht zur gemeinsamen Kundgebung aller Parteien gegen den Militärputsch erscheinen – und war fortan zu keinem Gespräch mit dem Staatspräsidenten oder dem Regierungschef Binali Yildirim geladen, auch wenn alle anderen Parteien gerufen wurden.


Droht jetzt der Bürgerkrieg ? - fragen einige Kommentatoren. Fast der gesamt Südosten der Türkei ist seit bald einem Jahr Kriegsgebiet (siehe auch den Artikel vom Februar 2016: Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner schaut hin ) Seit September diesen Jahres sind die gewählten Vertreter von 28 Gemeinden im Südosten der Türkei durch Statthalter aus Ankara ersetzt. Die Stimmen von einigen Millionen Wählern werden seither gegen deren Willen zwangsverwaltet. Die meisten Zeitungen und sogar Kindersendungen der kurdischen Fernsehkanäle waren aus Gründen der nationalen Sicherheit verboten.


Und jetzt sind alle überrascht? Seit Jahren rettet sich Brüssel und Berlin von einem empörten Erstaunen über den Kurs Erdogans und der Regierungspartei AKP zum anderen. Sobald ein Reporter fragt, was denn nun zu tun sei, wedeln alle unbeholfen mit Banalem:. „Nicht hinnehmbar“, „Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien“, „rote Linie“, „rote Linie überschritten“, „nicht zum business as usual zurückkehren“ aber den „Gesprächsfaden nicht abreißen lassen“.


Seit 2005 spulen Bürokraten der EU mit der Türkei ein Beitritts-Programm ab, von dem jeder weiß, so wird daraus nie etwas. Wo waren die Initiativen aus Europa in den vergangenen 10 Jahren, um die Türkei “im Geiste europäischer Werte” voranzubringen? Vor gut drei Jahren, 2013, als die Gezi-Protest niedergeknüppelt waren, fiel der SPD im Bundestag ein, man hätte ja schon früher mal mit der Türkei über das Kapitel “Justiz” verhandeln können? Und dann?


Wo war der Gesprächsfaden der vielen „Kurdenfreunde“ in Europa zur Oppositionspartei HDP, als die nach den Stimmenverlusten im letzten November, statt die eigene Politik zu überdenken, einfach das Wahlergebnis nicht anerkannte und wieder nur vom ‚gerechten bewaffneten Widerstand gegen die faschistische Politik in Ankara’ sprach ? Wo war der Gesprächsfaden zur größten Oppositionspartei in Ankara, zur der angeblich „sozialdemokratischen“ CHP? Über aller berechtigten Kritik an der AKP wird gerade vergessen: Es waren die Stimmen der CHP im Parlament zu Ankara, mit der die Immunität der Abgeordneten aufgehoben wurde. (siehe auch Artikel vom 21.05.2016: Die Abschaffung der Opposition durch die Opposition)

Das grimmige Befremden in Europa soll nur die eigene Konzeptionslosigkeit bemänteln. Die EU weiß nicht einmal, wie sie sich gegenüber dem Möchtegern-Erdogan im ungarischen Budapest verhalten soll. Gemeinsam befürchten sie aber alle, ohne den ‚Stützpunkt Türkei’ könnten die Krisen und Kriege im Irak und Syrien vollends unkontrollierbar werden. Unter diesen Vorzeichen wird Tayyip Erdogan seinen Kurs weiter verfolgen (siehe auch Artikel: ‚Dieses furchtbare Jahr...’)


Das Flüchtlingsabkommen spielt dabei kaum noch eine Rolle. Jeder, der sich in der Flüchtlingsfrage auskennt weiß: Selbst wenn die türkische Polizei und Küstenwache es wollte, sie könnten nie die tausende Kilometer Buchten vor den griechischen Inseln komplett absperren und kontrollieren. Wieso sich nun weniger Flüchtlinge in die Schlauchboote wagen? Es hat sich unter ihnen schlicht herumgesprochen, wie furchtbar es den Flüchtlingen auf den griechischen Inseln geht – und wie dicht inzwischen die Stacheldrahtverhaue auf der sog Balkanroute sind. Zugeben will das in Brüssel oder Berlin aber niemand.

Nur die USA wären in der Lage, Ankara zur Ordnung zu rufen. Aber Amerika ist mit der Präsidentschaftswahl beschäftigt und wird das noch eine Weile bleiben. Auch die Welt wird bald wieder vor allem nach Washington blicken, denn dort wird die Weltpolitik der nächsten Jahre entschieden. Unterdessen schmiert die türkische Börse weiter ab und die Währung hangelt sich von einem Werteverfall zum nächsten. Der sog. IS und die PKK haben der Türkei den totalen Krieg erklärt, während die Fronten in den Kriegen im Irak und Syrien zusehends komplizierter werden.

© 2023 Dieter Sauter
  • Über mich
  • Presse
    • Presse zu Filmen
    • Presse zu Fotos
    • Presse zu Texten/Büchern
  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum