“Das Regime wird stürzen – aber wie wir es stürzen, wird großen Einfluss darauf haben, wie das neue Syrien aussehen wird, was für eine Zukunft wir haben”, schrieb die syrische Anwälting für Menschenrechte Razan Zeitouneh vor kurzem. Mittlerweile scheint der "arabische Frühling" in Syrien unkalkulierbar.

Am 1. Oktober trafen sich in einem Hotel am Bosporus Vertreter der syrischen Aufständischen, um einen Nationalen Übergangsrat der oppositionellen Bewegung zu gründen. Bevor die Tagung eröffnet wurde, drangen rund 100 Syrer in das Hotel ein: “Wir sind aus Syrien und ich bin der Präsident der Arabischen Stämme, Ben Wafian Methgal. Wir stehen hier für die syrische Revolution, aber wir sind nicht vertreten in diesem sog. Nationalrat, der ausserhalb Syriens gegründet wird”, notierte die türkische Zeitung Hurriyet einen der Demonstranten. Es kam zum Handgemenge an der Tür, die Polzei musste einschreiten . Die Gründung des Nationalen Übergangsrates konnte erst eine Stunde später stattfinden – ohne Ben Wafian Methgal.

„Wir geben den Führern dieses Übergangsrates einen Monat Zeit. Wenn sie bis dahin nicht die Hoffnung der Menschen auf den Strassen Syriens erfüllen und das Assad-Regime beseitigen, dann werden wir einen anderen Übergangsrat gründen, einer der von den Menschen auf den Strassen Syriens ernannt wird und nicht von einer Opposition ausserhalb des Landes. Dieser neue Übergangsrat wird dann diesen sog. Nationalrat nicht als legitime Vertretung der syrischen Opposition anerkennen“, erklärte Methgal schliesslich.

Ankara an der Seite der Aufständischen in Syrien

Allein dieser Vorfall zeigt, wie kompliziert die Lage in Syrien ist. Der dortige arabische „Frühling“ hat bisher fast 3.000 Menschen das Leben gekostet, rund 10.000 Syrier sind auf der Flucht, rund drei Viertel davon in türkischen Flüchtlingslagern. Wie viele Tausende in Assads Gefängnissen sitzen, darüber gibt es nicht einmal vernünftige Schätzungen. Die Aufständischen lassen sich zwar nach wie vor von der brutalen Gewalt des Regimes in Damaskus nicht kleinkriegen – aber sie scheinen auch nicht genügend organisierte Kraft zu haben, um Assad entscheidend zu schwächen.

Seit sich Ankara ganz von der herrschenden syrischen Regierung abgewandt sich ohne Vorbehalt auf die Seite der Aufständischen gestellt hat, verfügt zumindest ein Teil der syrischen Opposition über einen sicheren Rückzugsraum. Man werde keinen Syrer auf türkischem Boden gegen seinen Willen nach Syrien oder in ein anderes Land ausweisen, erklärte das türkische Aussenministerium Mitte September. Als Assad seine Truppen an der türkischen Grenze aufmarschieren liess, bereitete Ankara sogar ein Manöver an der Grenze zu Syrien vor. Auch wenn das eher eine symbolische Geste ist, immerhin schwingt damit die zweitegrösste NATO Armee einen bewaffneten Arm an Assads Grenzzaun. Zur Beruhigung erklärte der NATO Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der türkischen Presse, die Situation in Syrien spreche nicht für eine internationale Intervention.

 

Was unterscheidet Syrien von Libyen

 

Wieso? Weil Syrien – anders als Libyen – kein Öl hat ? Nein, Syrien unterscheidet noch viel mehr von Libyen als die Ölvorkommen.

Zunächst sagen bisher alle Sprecher der Oppositionsgruppen Syriens : „Wir sind gegen eine militärische Intervention. Wir wollen weder eine Einmischung der Türkei noch irgendwelcher anderer Länder. Die haben in den vergangenen zehn Jahren alle Assad unterstützt “, so z.B. Anfang Oktober Ghayath Naisse, Mitgründer des Komitees für die Verteidigung demokratischer Freiheiten und Menschenrechte in Syrien.

 

Vor allem aber ist Syrien so etwas wie ein Eckstein in der politischen Statik des gesamten Mittleren Ostens. Wer an diesem Stein rüttelt, kann alle mühsam austarierten Gleichgewichte der Konkurrenz, des Schreckens und der Abschreckung in der gesamten Region erschüttern – mit unkalkulierbaren Folgen.

Russland hält an Assad aus gutem Grunde fest

 

Russland kann sich einen Verlust seines Einflusses in Syrien kaum leisten. Es hat bereits durch den Irak – Krieg Verträge über den Kauf von Rüstungsgütern und Energieabkommen von rund 10 Mrd USD verloren. Der Sturz Gaddafis in Libyen kostet Moskau noch einmal Milliarden USD. Mittlerweile verfügt die russische Armee in den Staaten des „arabischen Frühlings“ nur noch über gute Kontakte zum Militär in Ägypten und einen Militärstützpunkt an der syrischen Küste. So erklärte Anatolij Isajkins, der Chef der staatlichen russischen Waffenhandelsfirma Rosoboronexport im August der russischen Nachrichtenagentur Itar-Tass, seine Firma habe von der Regierung „keine Anweisung erhalten, die militärisch-technische Zusammenarbeit mit Syrien einzuschränken“.

 

Entscheidend für Moskau ist: Fällt das Assad-Regime, dann wird der einzige noch vorbehaltlose Verbündete Russlands im Mittleren Osten, der Iran, entscheidend geschwächt. Syrien nämlich ist wiederum für die Ayatollahs und ihre Militärs im Nahen und Mittleren Osten der entscheidende Hebel. Von einem Sturz Assads würde auch die Hamas geschwächt. Die Hizbollah in Syrien und Libanon würden sich von einem Sturz Assads nur schwer erholen – und die ist der lange Arm Teherans bis nach Beirut .

Verliert Teheran aber seinen Verbündeten Assad und mit ihm eine starke Hizbullah, dann verliert Teheran auch seine Konkurrenz mit Ankara um den Rang Nummer eins in der Region. Bislang hat den beiden Nachbarstaaten die Mühe um gegenseitige Verständigung mehr Vorteile als Nachteile gebracht. Allein im Aussenhandel der Türkei ist der Iran mit einem Handelsvolumen von knapp 3 Mrd USD in die Liste der ersten zehn aufgerückt, eine Steigerung von fast 30 % innerhalb eines Jahres. Doch je mehr sich die Lage in Syrien zuspitzt, umso sichtbarer werden die Risse in den gutnachbarlichen Beziehungen.

 

Die Türkei und der Iran - Risse in der guten Nachbarschaft

 

Der iranische Generalleutnant Yahya Rahim-Safavi verkündete vor wenigen Tagen öffentlich: “Die türkische Regierung verhält sich gegenüber den Staatsoberhäuptern Syriens und des Irans falsch. Ich glaube, die Türkei vertritt damit die Ziele der USA.” Ankara müsse auch die Folgen dieser falschen Politik tragen, die türkische Bevölkerung und „die Nachbarländer der Türkei“ würden sich von Ankara abwenden. Der Mann ist militärischer Berater des Religiösen Führers und Staatsoberhauptes des Iran, Ayatollah Khamenei.

Sog. „westliche Diplomatenkreise“ und türkische Medien liessen schon Anfang August durchsickern, die türkischen Sicherheitskräfte hätten Waffenlieferung des Iran nach Syrien in der Süd-Türkei gestoppt. Die Waffen seien für die Hamas bestimmt gewesen. Letzte Woche nun schreibt das regierungsnahe türkische Blatt Yeni Safak, die iranische Armee habe vor kurzem den zweiten Mann der PKK, Murat Karayilan, im Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei gefangen genommen – und wieder freigelassen, oder, wie böse Zungen sagen, wieder auf die Türkei losgelassen.

 

Die Widersprüche zwischen den arabischen Staaten – und dazwischen Israel

 

Aber nicht nur Ankara und Teheran ringen beim Thema Syrien miteinander. Der beste Feind des Iran in der Region, Saudi-Arabien, hat ein grosses Interesse an der Schwächung Teherans. Aber es hat überhaupt kein Interesse daran, dass auch nur ein Lufhauch des arabischen Frühlings durch die Gassen von Riad weht. Die Unruhen und Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und des Jemen haben die Widersprüche zwischen den arabischen Länder vergrössert. Die verschiedenen Lager im Mittleren Osten, die Revolutionäre, die Reformer und Reaktionäre, beäugen sich mit noch grösserem Argwohn als bisher. Ist der Sturz Assads nicht aufzuhalten, dann wird Saudi-Arabien und der Nachbar Ägypten sicherstellen wollen, dass dieser Wandel wenigstens in seinem Sinne vonstatten geht.

Zwischen all diesen Unwägbarkeiten sitzt Israel. Bereits im Juli hatte der israelische Geheimdienst Mossad berichtet, der Iran mische sich in Ägypten ein und sei dabei, die dortige Muslimbruderschaft aufzubauen. Wer die Strassenschlachten zwischen Muslimen und koptischen Christen in Kairo organisiert hat, ist noch vollkommen unklar. Klar ist nur: Israel wird nicht tatenlos zusehen, wie ein Nachbarstaat nach dem anderen ins Chaos abzugleiten droht.

Die Vielzahl religiöser und etnischer Gruppen machen es den syrischen Aufständischen nicht leicht, sich untereinander zu verständigen. Ihre Geschichte und ihre Lage in Syrien ist sehr unterschiedlich, ob es sich um die die Alawiten, die Christen, Drusen, Ismaiiten, die liberale Sunniten, die sunnitischen Islamisten, oder die Kurden. Damit ist der auch Streit über die richtige Strategie und Taktik und die Ziele des Aufstandes programmiert. Schliesslich: Die loyalen Einheiten Assads sind meist alawistischen Glaubens, die Aufständischen sind mehrheitlich Sunniten. Je härter beide Seiten aufeinandertreffen, umso eher nimmt der Konflikt auch einen religösen Charakter an.

 

„Bewaffnete Gruppen mit islamistischer Orientierung“

 

All diese Bruchlinien machen die Aufständischen besonders anfällig für eine Einmischung von aussen. Die deutsche Stiftung für Politik und Wissenschaft, der Think-Tank der deutschen Aussenpolitik, weiss inzwischen von verschiedenen unabhängigen Berichten, wonach in Syrien „zumindest in einigen Fällen bewaffnete Gruppen mit islamistischer Orientierung inmitten der grossen Mehrheit friedlicher Demonstranten operieren und systematisch auf eine Eskalation der Gewalt hinarbeiten. So sollen bereits etliche sunnitische Kämpfer aus dem Irak nach Syrien eingesickert sein. Nun sieht auch der Irak mit seiner schiitischen Armee sorgenvoll einer Machtübernahme der Sunniten in Syrien entgegen.

 

Noch streitet sich die syrische Opposition: Weiter friedlich demonstrieren oder sich bewaffnet wehren. Die einen setzen darauf, dass bei fortgesetzten friedlichen Protesten immer mehr Soldaten und zivile Funktionäre des Assad-Regimes zu ihnen überlaufen. Doch der Mord an dem Kurdischen Oppositionspolitiker Mishaal Tammos vor wenigen Tagen hat ihre Position geschwächt. Tammos war mit seiner liberale Zukunftspartei für einen friedlichen Übergang und ein demokratisches und pluralistisches Syrien eingetreten. Seine Beerdigung wurde zum wütenden Aufschrei der Kurden in Syrien, immerhin 10 % der Bevölkerung des Landes.

 

Kommt der lang andauernde Bürgerkrieg in Syrien ?

 

Nach einer Studie der Columbia University heisst das nichts Gutes. Sie hat 323 Fällen bewaffneter und unbewaffneter Oppositionskonflikte zwischen 1900 und 2006 untersucht. Das Ergebnis: Nach einem erfolgreichen bewaffneten Aufstand liegt Wahrscheinlichkeit eines demokratischen Übergangs innerhalb von fünf Jahren bei nur drei Prozent, gegenüber 51 Prozent, wenn der Konflikt unbewaffnet ausgetragen wurde.

 

Fazit: Ein bewaffneter Aufstand in Syrien kann sogar in einem lang andauernden Bürgerkrieg enden, einem Bürgerkrieg, in dem die verschiedensten Mächte in der Region die Fäden zu ziehen versuchen. Ein solcher Bürgerkrieg könnte die Sicherheit und Stabilität des gesamten Mittleren Osten gefährden. Kein Wunder, dass die meisten Politiker, die sich in der Region auskennen, ein offenes Eingreifen der NATO z.B. unter den gegebenen Umständen für ein vollkommen unkalkulierbares militärisches Risiko halten. Zur Zeit, klagen etliche Diplomaten aus dem Westen, sei nicht einmal klar, welcher Vertreter im neu gegründeten Nationalen Übergangsrat tatsächlich welche Bevölkerungsgruppe in Syrien repräsentiere.