Hinter den Kulissen sieht man die Schatten eines Machtkampfes zwischen Regierung, Geheimdienst, Polizei und Justiz – Anlass sind die Verhandlungen Ankaras mit der PKK zur Lösung der Kurdenfrage.

 

Wie meist in kritischen Situationen meldet sich auch diesmal der Industriellenverband TÜSIAD zu Wort. Die Vorsitzende Umit Boyner: „ Gerade haben wir noch darüber gesprochen, dass alles demokratischer werde – und schon sind wir wieder auf eine neue Mine getreten. Wir beobachten den Streit (im Staatsapparat) mit grosser Sorge“

Merkwürdige Meldungen machen die Runde: Das Arbeitszimmer eines der Regierung nahestehenden hohen Verwaltungsrichters ist verwanzt – und keiner weiss, wer ihn abhört. Ein Staatsanwalt in Istanbul lädt den Chef des Türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, als Beschuldigten vor. Er soll mit der PKK verhandelt und weitreichende Zugeständnisse gemacht haben. Gegen Hakan Fidan’s Vorgänger, Emre Taner, und eine Agentin im leitenden Stab des Geheimdienstes wurde deshalb gar Haftbefehl erlassen, heisst es in der türkischen Presse.

Tatsächlich hatte der Regierungschef Tayyip Erdogan bereits im August 2010 in einem Fernsehinterview eingestanden, ja, solche Treffen habe es auf seine Veranlassung hin gegeben. Das sei schliesslich der Job des Geheimdienstes. Kann also ein Staatsanwalt die Politik einer gewählten Regierung vor Gericht stellen? Der Regierungschef selbst konnte sich zunächst nicht einmal wehren, er lag im Krankenhaus auf dem OP Tisch. Hatte die Justiz auch den Zeitpunkt ihres Vorstoßes genau bedacht?

Merkwürdige Meldungen

Und noch eine merkwürdige Meldung: Der Polizeichef von Istanbul entlässt zwei hohe Polizeioffiziere, 9 weitere Beamte der Antiterror-Einheit werden ins Finanzministerium versetzt. Sie alle waren für die Razzien gegen die PKK nahe KCK (Koma Civaken Kurdistan – Union der Gemeinschaften Kurdistans) verantwortlich. Die KCK gilt als der politische Arm der PKK in den Städten des Landes, gegründet 2005. Wie ist das wieder zu deuten? – und wie hängt das mit dem Streit zwischen Geheimdienst, Regierung und Justiz zusammen? Gibt es eine Staatskrise, wie manche schreiben?

Doch der Reihe nach. Kein Regierungschef hat dem Land bisher so konkrete Hoffnungen auf die Lösung der Kurdenfrage gemacht wie Tayyip Erdogan. Zwar wollte auch Staatspräsident Turgut Özal 1992 gegen den Widerstand in der Armee den Krieg mit der PKK beenden. Doch dann starb er überraschend – und die Gerüchte, dass sein plötzlicher Tod keine natürliche Ursache hatte, sind bis heute nicht verstummt.

Tayyip Erdogans Regierung ringt seit 2002 mit seinen Gegnern innerhalb der Armee und der Justiz. Dass der Geheimdienst dabei eine wichtige Rolle spielt, weiss er. Suleyman Demirel, einer seiner Vorgänger, wurde zwei Mal von der Armee gestürzt, ohne dass ihn sein eigener Geheimdienst davor gewarnt hatte. 2005 gelingt es Tayyip Erdogan, einem Mann die Leitung von MIT zu übertragen, dem er vertrauen kann: Dem 63 jährigen Emre Taner. Dieser kennt den Geheimdienst damals schon seit fast 40 Jahren von innen. Er gilt als Befürworter einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage und hatte gute Kontakte zu den Kurdenführern Barzani und Talabani im Irak .

Ein Test geht schief 

Zwei Jahre später, 2007, beginnt die erste Razzia gegen mutmassliche Putschisten vor allem innerhalb der Armee. Etliche der Verdächtigen zählten auch zu energischen Gegnern einer politischen Lösung der Kurdenfrage. Bald darauf, 2008, treffen sich zum ersten Mal Mitglieder des türkischen Geheimdienstes zum mit Vertretern der PKK in Oslo.

Wiederum wenige Monate später testen sowohl die PKK als auch die Regierung Erdogan, wie PKK Kämpfer entwaffnet und ihre Angehörigen aus Lagern im Nordirak in die Türkei zurückkehren könnten. 34 PKK Mitglieder kehren offiziell aus dem Nordirak in die Türkei zurück. Es wird für sie ein Triumphzug. Sie ziehen von einer Massenkundgebung jubelnder Kurden zur anderen – für die Regierung ein Desaster. Eine politische Kraft der PKK im Südosten könnte der Regierung vielleicht mehr schaden, als das Image des Friedensbringers nutzen könnte, so die Befürchtung in Ankara.

Damals, so der Chef des türkischen Forschungsinstitutes TESEV Can Paker Anfang Februar in einem Interview mit der Zeitung Hurriyet, habe die Regierung beschlossen: Zunächst müsse die PKK geschwächt werden, bevor man mit der Lösung der Kurdenfrage fortfahren könne. Can Paker gehört zu den 20 einflussreichsten Personen in der Türkei. Sein Forschungsinstitut hat die Regierung mit Sachkenntnis bei der Übernahme der Kontrolle über das Militär unterstützt und auch die Sachfragen zur Lösung des Kurdenproblems mit vorbereitet.

Aufräumen mit allen, die im Wege sein könnten

Bald darauf beginnen landauf landab Razzien gegen die KCK. Die Festgenommen werden beschuldigt, eigene staatsähnliche Strukturen im ganzen Land aufzubauen. Die zurückgekehrten PKK Mitglieder werden von der Justiz angeklagt, PKK Mitglieder zu sein.

2010 wird Emre Taner pensioniert – und Hakan Fidan wird Chef des türkischen Geheimdienstes. Er ist ein enger Vertrauter Tayyip Erdogans und hat bis dahin im Büro des Regierungschef gearbeitet. 2010 nehmen die Razzien gegen die KCK zu. Kritiker auch in Europa warnen, die Regierung räume nun unter dem Deckmantel „Razzia gegen die PKK“ auch mit allen auf, die ihr irgendwie im Weg scheinen. Tausende werden bis heute verhaftet, darunter auch zahlreiche gewählte Bürgermeister von Gemeinden im Südosten des Landes, oder eine Justizprofessorin, Büşra Ersanlı,die kurdische Abgeordneten in Ankara bei der Kommission zur Verfassungsreform vertreten sollte. Sogar Autoren und Verleger wie Ragip Zarakolu sitzen inzwischen in U-Haft. Ragip Zarakolu ist inzwischen in Oslo Kandidat für den Friedensnobelpreis. Vergangene Woche wurden gar drei Gewerkschaftszentralen gestürmt.

Die Polizei, die die Razzien gegen die KCK durchführte entdeckte derweil wiederum Merkwürdiges: Immer häufiger wurden festgenommene KCK Mitglieder als Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT enttarnt, etliche gar in der Führung der KCK. Diese Agenten hätten als KCK Mitglieder und Führer schwerwiegende Straftaten begangen, deshalb sei der Chef des Geheimdienstes vorgeladen worden, verteidigt sich die Justiz. Wer verteidigt sich? Das bleibt geheim - zur Zeit sprechen Vertreter der Justiz nur mit der Presse, die ihnen Anonymität zusichert.

Wer kontrolliert die Regierung ?

Wie reagiert die Regierung? Zunächst entlässt sie die Polizisten, die ihre Ermittlungsergebnisse (MIT Agenten in der KCK) an die Justiz weitergegeben hatten. Dann wird dem Staatsanwalt, der den Geheimdienstchef vorgeladen hatte, das Mandat entzogen. Schliesslich lässt der Regierungschef noch vom Krankenbett aus einen Gesetzentwurf schreiben: Danach darf gegen aktive Mitglieder seines Geheimdienstes nur dann ermittelt werden, wenn er selbst dazu die Genehmigung erteilt hat

„Typisch Türkei!“ schreibt der Chefredakteur der Tageszeitung Taraf. Es gibt ein absurdes Justizsystem (aus den Zeiten des Militärputsches 1980). Es werde nun aber nicht diese Absurdität beseitigt, sondern ein anderes absurdes Gesetz verabschiedet, das wiederum die Beamten und die Politik vor der Justiz schützen soll. Tatsächlich hat die AKP Mehrheit im Parlament für praktisch alle Beschäftigten im Öffentlichen Dienst ein Immunitätsgesetz erlassen. Auch gegen einen Beamten in der staatlichen Behörde für Religionsangelegenheiten darf nun erst ermittelt werden, wenn dessen Vorgesetzter dazu die Erlaubnis erteilt.

Zwar kontrolliert die Politik inzwischen mehr und mehr auch die Sicherheitsorgane – aber wer kontrolliert die Regierung? Für den Souverän in der Demokratie, den Wähler, bleibt das Meiste undurchschaubar - wie zuvor. Nach wie vor sind die Schlüsselworte in der türkischen Politik „geheim“ und „anonym“. Der Druck auf die Presse führt dazu, dass auch in den Zeitungen kaum noch Kritik an soviel Undurchsichtigem zu lesen ist.

Undurchsichtig, undurchschaubar

So bleibt auch der Plan der Regierung in Sachen PKK und Kurdenfrage im Dunkeln. Das Forschungsinstitut TESEV hatte schon vor mehr als einem Jahr eine Roadmap verfasst, wie ein Waffenstillstand erreicht und die PKK entwaffnet werden könnte. Dort werden auch notwendige Gesetzes- und Verfassungsänderungen genannt, um auf die Forderungen der Kurden einzugehen. Das ist das eigentlich Neue. So weitgehende und konkrete Pläne gab es bisher noch nie.

Einen für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren „Kurdenplan“ der Regierung aber gibt es dagegen aber nicht. In der Vergangenheit verwies sie stattdessen immer wieder auf den grossen Wurf einer neuen Verfassung. Ende Januar nun erstaunte die Verfassungskommission des Parlaments die Öffentlichkeit gar mit dem Beschluss, alle Vorschläge zur Änderung der Verfassung nicht mehr zu veröffentlichen. Sie würden geheim gehalten, um diejenigen zu schützen, die Anträge einreichen.

Gute Wirtschaftsdaten, wachsendes internationales Ansehen, eine parlamentarische Opposition, die den Namen kaum verdient, das verschafft der AKP Tayyip Erdogans nach wie vor Umfragewerte von gut 50 % - und dementsprechend viel Spielraum. Hört man auf Gerüchte aus Ankara, von Quellen, die natürlich anonym bleiben wollen, dann plane Tayyip Erdogan in der Mitte des Jahres einen neuen Anlauf zur Lösung der Kurdenfrage. Bereits zum Jahreswechsel warnte der AKP Abgeordnete aus Diyarbakir, Galip Ensarioğlu allerdings, ohne die Lösung der Kurdenfrage und eine Reform der Verfassung nachvollziehbar auf den Weg zu bringen, werde es seine Partei schon bei den Kommunalwahlen 2013 schwer haben. Bisher allerdings befürchtet der Vorsitzende der Kurdenpartei BDP, Selahattin Demirtaş, erst einmal einen blutigen Frühling.