Einschüchterung von Kritikern, unverfrorenes Auftreten, begleitet von Polizeima ßnahmen und einer Gleichschaltung der Presse? Sind das die Stützen, auf denen die Herrschaft der Regierungspartei AKP und des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan ruht?

140704 AKP-Uhr

 

Der Minenarbeiter Taner Kurucu aus Soma kann einem leid tun. Letzten Freitag war er in allen Zeitungen und auf allen Fernsehkanälen. Da berichtete er, wie Ministerpräsident Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Soma kurz nach dem Unglück vor wütenden Bergarbeitern und ihren Angehörigen in einen Supermarkt floh. Taner Kurucu war in diesem Supermarkt – und plötzlich stand Tayyip Erdogan vor ihm. „Der Ministerpräsident war wegen der Proteste gegen ihn sehr aufgebracht. Er hatte sich wohl nicht mehr in der Gewalt – und schlug mir ins Gesicht“. Zwei Tage später ist Taner Kurucu wieder überall in den Schlagzeilen: „Ich habe den Fernsehsendern an jenem Abend was Falsches gesagt. Ich bitte den Ministerpräsidenten um Entschuldigung. Er hat mich nicht geschlagen, er hat mich beschützt. Seine Bodyguards wollten auf mich los – und da machte er eine Handbewegung, um diese davon abzuhalten“.

„Meine Nation kennt diese Verleumder im Land“ – bügelt Tayyip Erdogan letzten Montag bei seiner ersten Rede in Ankara nach dem schwersten Minen-Unglück in der Geschichte der Türkei alle Kritiker ab. Die Arbeitssicherheitsgesetze entsprechen dem Standard der Europäischen Union, ergänzt der Arbeitsminister Faruk Celik, und der Sprecher der AKP, Hüysein Celik fügt hinzu: „Die Mine in Soma wurde seit 2009 11 mal von den zuständigen Stellen kontrolliert“.

Während die internationale Presse nach Adjektiven ringt, um ihre Fassungslosigkeit über die Reaktion der türkischen Regierung angesichts dieses Unglücks zu beschreiben, tritt Tayyip Erdogan als Opfer auf, der sich aber nicht davon abhalten lässt, nun energisch durchzugreifen. Er verhängt ein Demonstrationsverbot für ganz Soma, verfügt rasche finanzielle Hilfe für die Angehörigen der Opfer – und Anfang der Woche erschienen gleich fünf Tageszeitungen mit derselben Überschrift: „Tag der Abrechnung!“ . Sie zeigen Bildern von 5 Verhafteten in Soma, die das Unglück mutmaßlich mitzuverantworten hätten.

Ist das die Methode Erdogan?Einschüchterung von Kritikern, unverfrorenes Auftreten, begleitet von Polizeima ßnahmen und einer Gleichschaltung der Presse?

Nein – aber man kann an der Kohlemine in Soma viel erfahren über diese Methode. Tatsächlich hat Tayyip Erdogan früh erkannt, dass ihm allein rasches und für alle spürbares wirtschaftliches Wachstum die Macht sichert. Das freie Unternehmertum fördern um jeden Preis ist seither das erste Ziel der AKP Regierung. Eine wachsende Wirtschaft aber braucht Energie. Allein der Kohleverbrauch hat in der Türkei in den letzten 10 Jahren um 200 % zugenommen. Damit profitables Wirtschaften möglich ist, müssen die Energiekosten gering bleiben. So wurde die einst staatliche Kohlemine in Soma privatisiert. Die Löhne wurden gesenkt, die Arbeitsbedingungen schwieriger und die Förderkosten pro Tonne Kohle - und darin auch die Arbeitskosten - sanken von 140 USD auf 24 USD, schreibt einer der kenntnisreichsten Kritiker der AKP, Ahmet Sik. Er wollte ein Buch über die Methode Erdogan schreiben und saß dafür über ein Jahr im Gefängnis.

Abwehren können die Minenarbeiter die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen nur schwer. Die Gewerkschaftsgesetze aus der Zeit nach dem Militärputsch 1980 gelten zum größten Teil heute noch. Sie machen ein gemeinsames Handeln der Lohnabhängigen fast unmöglich. So gibt es 92 Einzelgewerkschaften – mit einem Organisationsgrad von gerade mal gut 9 %. Tariffähig ist eine Gewerkschaft in einem Unternehmen aber erst, wenn ihr Organisationsgrad dort über 50 % liegt.

Der alleinige Abnehmer der Soma-Holding ist übrigens die Staatliche Kohleverwaltung. Die verteilt nun einen Teil der so geförderten Kohle kostenlos an die Armen. In den vergangenen 10 Jahren hat die Regierung fast 18 Mio Tonnen Kohle kostenlos an Bedrüftige verteilt, ausserdem Kühlschränke und Lebensmittel – und das ist nur ein kleiner Teil ihres Sozialprogrammes. 9,5 Mio Geringverdiener haben eine sog. „Green Card“, mit der sie kostenlos medizinische Versorgung in Anspruch nehmen dürfen ausserdem erhalten Witwen und Arbeitslose staatliche Unterstützung. Dafür gab die Regierung in den letzten 10 Jahren pro Jahr im Schnitt 400 Mio TL aus. Im letzten Jahr war es schon knapp 1 Mrd TL.

Nach Angaben der Türkischen Statistik erhalten so rund 10 Mio Menschen im Land staatliche Hilfe, zum ersten Mal übrigens, denn tatsächlich ist die AKP Regierung die erste, die sich der Mittellosen annimmt.

Gleichzeitig hat die staatliche Wohnungsbaugesellschaft in den letzten 10 Jahren rund 600.000 Wohnungen fertig gestellt. Auch die werden nur an Familien mit geringem Einkommen verkauft, Kritiker sagen, nur an solche, die als AKP Anhänger bekannt sind. Egal ob das stimmt, 600.000 Familien oder 3-5 Mio Personen sind so über Kredite, die 15 bis 20 Jahre laufen, an die staatliche Wohnungsbaugesellschaft gebunden.

Dieses Sozialprogramm ist neben dem spürbaren Wirtschaftswachstum ein weiteres wichtiges Standbein, auf dem die Wahlsiege der AKP ruhen. Auch wenn Soziologen wie Ali Bulac sagen, die Regierung verteile „Fische, bringe aber niemandem bei, selbst Fische zu fangen“, halte also die Armen in Abhängigkeit – keine der bisherigen Regierungen hatte sich früher der Armen angenommen, und es ist keine Partei in Sicht, die sich eine soziale Marktwirtschaft auf ihre Fahnen schreibt.

Wie weit verbreitet und drückend die Armut im Land sein kann, hat die Kohleminen-Gesellschaft in Zonguldak am Wochenende per Bekanntmachung beleuchtet. Im Kohlerevier Zonguldak am Schwarzen Meer kamen 1992 bei einem Grubenunglück 263 Bergleute ums Leben. Zur Zeit werden dort 115 Minenarbeiter gesucht – und 4.000 haben sich beworben.

Trotzdem frohlocken einige Kommentatoren: So wie die Gezi Proteste der Weckruf für einen Teil der Mittelschicht und die liberale Intelligenz des Landes gewesen sei, so werde die Reaktion der Regierung über den Gräbern der Bergleute in Soma zum Weckruf für die Arbeiter werden. Das ist eine weitreichende Hoffnung. Tayyip Erdogan hofft, dass mit der Entschädigung der Angehörigen der verunglückten Minenarbeiter und einem medienwirksamen Beginn eines Prozesses gegen mutmaßliche Verursacher der Katastrophe von Soma die Tragödie nach und nach in Vergessenheit gerät. Wie lange dieser Prozess dauert – und was dabei ans Licht kommt, ist ungewiss. Als im Dezember 2011 die türkische Luftwaffe versehentlich 35 Schmuggler im Südosten der Türkei zu Tode bombte, versprach die Regierung ebenfalls rückhaltlose Aufklärung. Bis heute ist unklar, wer damals den Befehl dazu gab.