Zum ersten Mal sitzt ein ehemaliger Generalstabschef in Untersuchungshaft. Offenbar kontrolliert die Regierung inzwischen mehr und mehr auch die Sicherheitsorgane des Staates. Aber tut sich das wirklich - wer kontrolliert die Regierung?

 

Wieso atmet keiner so richtig auf? Zum ersten Mal sitzt ein ehemaliger Generalstabschef in Untersuchungshaft. Ilker Basbug soll sich wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, wegen Beihilfe zu einem Putschversuch gegen die Regierung, verantworten. Das war selbst vor fünf Jahren noch unvorstellbar. 2007 riefen etliche Botschafter Journalisten zu außerordentlichen Beratungen. Die meisten schauten sich fragend an: Was ist da los? Wird es einen Militärputsch geben? Damals hatte der Generalstabschef Yasar Büyükanit in einem Memorandum im Internet ultimativ vor der Kandidatur Abdullah Güls zum Staatspräsidenten gewarnt. Bald darauf verhandelte das Verfassungsgericht gar über ein Verbot der Regierungspartei AKP. Das ist gerade mal vier Jahre her. Und jetzt? Jetzt soll sogar der 94 jährige Kenan Evren, der Putschgeneral von 1980, noch vor Gericht.

Hat sich nun alles geändert? Bleibt die Regierung im Ringen mit dem „tiefen Staat“ nun endgültig oben? Der „tiefe Staat“, so nannte man am Bosporus bisher mächtige Seilschaften innerhalb des Staatsapparates. Sie waren ohne jede demokratische Legitimation, konnten aber eine gewählte Regierung stoppen oder auch stürzen. Manche Beobachter der politischen Szene am Bosporus unterschieden deshalb gar zwischen „dem Staat“ und „ der Regierung“. Was ist die beste Medizin gegen den tiefen Staat ? Die beste Medizin gegen den tiefen Staat ist Transparenz, so schrieb im Dezember 2006 der damals allseits angesehene Kommentator Ismet Berkan der Tageszeitung Radikal.

„Jawohl verehrter Ministerpräsident!“

Ismet Berkan ist seit August 2010 nicht mehr bei Radikal. Viele kritische Publizisten sind in den letzten Jahren verstummt. Zwischen 50 und 100 Journalisten sitzen in Gefängnis, nicht einmal ihre genaue Zahl ist bekannt. Heute schreibt der Kommentator der Tageszeitung Hürriyet, Ertugrul Özkök, zum Tod der 35 Schmuggler an der türkischen Grenze durch die Bomben der eigenen Luftwaffe: „ Jawohl verehrter Ministerpräsident, Sie haben das Richtige getan. Sie stehen hinter unserer Armee und wir stehen hinter Ihnen“.

Die Kunde von der Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei hat seit einigen Monaten auch die Gremien des Europarates und der EU erreicht. Kritische Stimmen von dort beklagen, der Regierungschef Tayyip Erdogan gebärde sich wie ein „neuer Sultan“. Diese Schelte aber greift zu kurz.

Viel wird untersucht – und alles bleibt geheim

Tatsächlich ist vieles inzwischen anders – aber wenig hat sich geändert. Von mehr Transparenz keine Spur. Wer ist dafür verantwortlich, dass die Armee 35 Zigarettenschmuggler getötet hat ? Das wird natürlich untersucht – aber die Untersuchung ist geheim, so die Staatsanwaltschaft.

Der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink dauert nun schon vier Jahre – und was haben die Ermittlungen ergeben? Zweifelsfrei hat das Gericht nur festgestellt, dass der mutmassliche Mörder Hrant Dinks jünger ist, als in seinem Pass steht. Er hat also eine wesentlich geringere Strafe zu erwarten als ein erwachsener Attentäter. Wer diesen Mord in Auftrag gab, wer ihn vorbereitete, finanzierte und verhinderte, dass Polizei, Armee und Gendarmerie den Mörder aufhielten, obwohl sie offenbar von einem bevorstehenden Mordanschlag wussten, das liegt nach wie vor im Dunkeln.

Dunkle Machenschaften

Verurteilt wurden gerade auch Bombenleger, die schliesslich als Gendarmerie-Offiziere enttarnt wurden. Sie hatten 2005 im Südosten der Türkei, in Semdinli, einen Buchladen in die Luft gesprengt. Der Buchhändler starb, es gab Verletzte – und im Fahrzeug der Attentäter lag Sprengstoff und eine Liste mit weiteren Anschlagszielen. Das erste Opfer dieses Prozesses war - der ermittelnde Staatsanwalt. Er hatte es damals gewagt, den damaligen Generalstabschef Yasar Büyükanit in die Nähe der Attentäter zu rücken. Er wurde gefeuert, erhielt Berufsverbot – und ein Militärgericht liess die Bombenleger schliesslich sogar frei. Immerhin: Nach jahrelangem Tauziehen innerhalb der Justiz verurteilte ein Zivilgericht die Bombenleger nun zu 40 Jahren Gefängnis. Wer ihnen aber dieses Attentat befahl und warum, wurde nie geklärt.

Das Verfahren gegen mutmassliche Putschisten in Polizei, Armee und zivilen Organisationen mit Namen „Ergenekon“ schleppt sich nun seit über drei Jahren durch mehr als 200 Verhandlungstage. Auf über einer Million Seiten sind in 4.300 Aktenordnern Aussagen aufgeschrieben. Aber auch diese Ermittlungen sollen geheim sein. Mittlerweile wurden tausende Verfahren gegen Journalisten eröffnet, weil sie das Gebot der Geheimhaltung umgangen hätten. Der Mammut-Prozess Ergenekon selbst aber hat bisher nicht erhellt, wer die Putschisten geführt und bezahlt hatte. Stattdessen entwickelt er sich mehr und mehr zum „schwarzen Loch“ auch für die, die es wagen, Licht auf die Machenschaften undurchschaubarer Seilschaften im Staatsapparat zu werfen. Sie landen wie der Publizit Ahmet Sik ebenfalls in Haft.

„Von schlecht zu miserabel“

Es liesse sich noch viel anführen: Das Verfahren gegen den ehemaligen Innenminister Mehmet Agar, dem eine Verbindung zu einem von Interpol gesuchten Mafiosi nachgewiesen wurde; die Ermittlungen zum ungeklärten Tod von rund 17.000 Menschen vor allem im Südosten der Türkei in den 90iger Jahren; die Frage, ob es denn nun einen Geheimdienst der Gendarmerie gab oder gibt; die Ermittlungen im Mord an dem Mord des katholischen Bischoffs Luigi Padovese 2010, usw usw. – eine kaum überschaubare Zahl dunkler Machenschaften, und in keinem Fall erfährt die Öffentlichkeit, wer da warum mit wem die Fäden in der Hand hielt.

Es stimmt, vieles ist anders. Offenbar kontrolliert die Regierung inzwischen z.B. mehr und mehr auch die Sicherheitsorgane des Staates. Aber tut sich das wirklich - wer kontrolliert die Regierung? Das Parlament? Gerade hat das Parlament z.B. eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes um 7.4% zugestimmt, ohne jede Debatte darüber, wofür denn das Geld ausgegeben werden soll. Ich bin erschüttert, meint die Militärexpertin Ümit Cizre von der Bilkent Universität in Ankara, dass sich die Kontrolle über die Militärausgaben durch das Parlament von schlecht zu miserabel gewandelt hat. Nicht einmal die Opposition, die tagelang schwadronieren kann, wenn sich der Regierungschef ein neues Auto kauft, verlor darüber ein Wort.

Kurz: Für den Souverän in der Demokratie, den Wähler, bleibt alles undurchschaubar wie zuvor. Selbst die Debatten im Parlament über Krieg und Frieden, über Militäreinsätze im Ausland, finden nur in geheimen Sitzungen statt. Der Druck auf die Presse führt schliesslich dazu, dass auch in den Zeitungen kaum noch Kritik an soviel Undurchsichtigem zu lesen ist. Im Dunkeln aber lassen sich Seilschaften ohne demokratische Legitimität besonders leicht knüpfen. Die jüngere Geschichte der türkischen Republik ist dafür voller Beispiele.