Worum geht es bei den Razzien am Bosporus gegen Polizeioffiziere? Wo immer man Polizisten in Handschellen sieht, glaubt man, es geht um die Erhaltung des Rechtsstaates. Der Wähler am Bosporus glaubt das nicht.

 

 

 

Razzien am Bosporus: Inzwischen sind sie aus der internationalen Presse verschwunden. Immerhin gibt es einen Krieg im Nahen Osten und in der Ukraine. Ausserdem: Wer soll da noch mitkommen? Der Presse werden hohe Polizeioffiziere in Handschellen vorgeführt. Wer sind die? Was haben die verbrochen? Man hört alles Mögliche – und erfährt nichts.

Die türkischen Medien berichten von Untaten der Verdächtigen: Illegale Abhöraktionen, Amtsmissbrauch, Geheimnisverrat. Niemand weiß, woher diese Informationen aus einem laufenden Ermittlungsverfahren stammen und was davon stimmt.

 

Unbarmherziger Pate ?

All dies soll ein Islamgelehrter, Fethullah Gülen, organisiert haben. Der türkische Prediger lebt in den USA (Pennsylvania) und betreibt ein weitverzweigtes Netz von Unternehmen, unter anderem weltweilt 1.500 Schulen und 15 Universitäten. Die einen nennen ihn einen ‘zu Unrecht Verteufelten’ – andere einen ‘unbarmherzigen Paten’. Die türkische Justiz will ihn anklagen – auch wenn er in Amerika lebt.

Die festgenommenen Polizeioffiziere hätten auf seine Weisung hin die (angeblich) ungerechtfertigten Razzien gegen Mitglieder der Regierung wegen mutmaßlicher Korruption angeordnet. Warum werden die Polizisten verhaftet und nicht die Staatsanwälte, die bekanntlich solche Razzien anordnen müssen?

Der Wirtschaft des Landes sei dadurch ein Schaden von umgerechnet 75 Mrd Euro entstanden. Das sei Hochverrat, Gründung einer terroristischen Vereinigung zum Zwecke, die Regierung zu stürzen, so der Rechtsanwalt Hüdaverdi Yildirim in einem Antrag an die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft im Februar dieses Jahres.

 Dabei haben Tayyip Erdogan und Fethullah Gülen jahrelang eng zusammengearbeitet.

 

Schwierige Jahre für die AKP

Als Tayyip Erdogan’s AKP 2002 zur Regierungspartei wurde, war ihre Position alles andere als sicher. Bis 2007 versuchte der damalige Staatspräsident Necdet Sezer die Politik Tayyip Erdogans wo immer es ging mit einem Veto zu blockieren. Schliesslich strengte die Staatsanwaltschaft (2007) sogar ein Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP an, die Armee drohte immer offener und die Opposition (CHP) erklärte: Wenn Abduallh Gül zum Staatspräsidenten gewählt würde, werden sie mit ihm nicht sprechen. Abdullah Gül wurde trotzdem gewählt.  Die Opposition nahm seine Einladungen nicht an, Generäle gaben ihm bei Empfängen nicht einmal die Hand und erst 2012, da war Abdullah Gül schon 5 Jahre Staatspräsident, konnte er zum ersten Mal einen normalen Empfang zum Republikfeiertag geben.

 Dass die Regierung Erdogan all diese Klippen und Untiefen ohne zu Kentern passieren konnte, das habe er auch Fethullah Gülen und dessen Anhängern im Geheimdienst, der Polizei, der Justiz und Armee zu verdanken, sagen viele. Noch 2008 wurde Fethullah Gülen zu einem der einflussreichsten Männer der Türkei gewählt, und zwar auf Platz 6 von 50. Der Autor selbst kann berichten, dass ihm ein Polizist zu dieser Zeit geklagt hatte: Nur Anhänger der Gülen-Bewegung hätten im Öffentlichen Dienst eine Chance auf Beförderung.

Jetzt sitzen Polizeioffiziere in U-Haft, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Sportler, Wirtschaftsfunktionäre und natürlich Journalisten stehen wie Kinderschänder am Pranger, weil sie ‘Gülenci’ sein sollen. Offen bleibt, was für ein Straftatbestand das ist. Auch der Chef der Istanbuler Börse wird deshalb gefeuert. Den Polizeibeamten wird “Gründung einer kriminellen Vereinigung” vorgeworfen, dem Aufbau eines “parallelen-Staates”, eine Anklage, die an “Gotteslästerung” und “Verteufelung der Heiligen Mutter Kirche” erinnert. Es ist wie bei einer „Hexenjagd“, aber die hatte der Regierungschef Tayyip Erdogan im Mai ja auch angekündigt.

 

Streit um Posten und Pfründe ?

Wieso bekämpfen sich die beiden Verbündeten nun bis aufs Blut ? Streiten sie sich über politische Fragen ? Bekannt ist, dass der Prediger Verhandlungen mit dem PKK Chef Öcalan ablehnt und den Kurs der Regierung gegen Israel kritisiert. Aber reicht das als Grund für solch eine Fehde ?

Seit Jahren sollen Gülencis im Staatsapparat “Material gegen die Regierung” gesammelt haben. Warum ? Schon im Februar 2012 entdeckten Experten: Das Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan ist verwanzt. Zunächst wurde der iranische Geheimdienst verdächtigt – dann hörte man nichts mehr davon, bis heute. Was ist da vor Jahren geschehen, dass aus Freunden Todfeinde wurden?

Wenn es keine sachlichen Gründe für diesen Machtkampf gibt, geht es beim Streit zwischen den Parteigängern Erdogans und den Gülencis vielleicht nur um Posten und Pfründe im Staatsapparat? Um Staatsaufträge in der Wirtschaft, um Immobilien und Investitionen und wer hinter den Kulissen was verschiebt ? Viel spricht dafür, aber es wird noch lange dauern, bis das aufgeklärt ist.

 

Statt Aufklärung - der “tiefe Staat”

Neu ist das alles nicht. Seit Jahrzehnten bekämpfen sich Fraktionen innerhalb des türkischen Staatsapparates – außerhalb jeder Kontrolle durch das Parlament, die Öffentlichkeit oder die Justiz. Das ist vielleicht das größte Problem: Die Justiz ist dabei keine unabhängig ermittelnde Institution, sondern meist nur Handlanger einer dieser Fraktionen. Ob es sich dabei um die Verstrickung von Staatsbeamten in Geschäfte der Mafia handelt, oder um den Versuch, eine Regierung zu stürzen wie beim Verbotsantrag gegen die AKP oder beim Kampf der AKP gegen die Gängelung durch das Militär: Die Wähler erfahren nichts, statt Aufklärung werden sie mit dem ominösen Wort vom “tiefen Staat” abgespeist, dem man nun an den Kragen gehe - bis zum nächsten Fall.

Alle, die einst hofften, mit der AKP werde sich das ändern, sehen im Gegenteil: Der Weg der AKP zur uneingeschränkten Macht am Bosporus ist mit zunehmender Intransparenz und Gängelung der Justiz gepflastert. Der Wähler bleibt der unwissende und ohnmächtige Zuschauer von Intrigen und Machtkämpfen im Staat. Keine der Fragen, die die Gesellschaft in den vergangenen Jahren umtrieb, wurde je aufgeklärt, ob es sich um den Mord an einem herausragenden Mitglied der armenischen Gemeinde, Hrant Dink, handelt, oder das Massaker an ein paar Dutzend Bauern an der iranisch-türkischen Grenze (Uludere).

Oder das Militär: Vor wenigen Jahren erst, im (sog. Ergenekon-)Verfahren, wurden hunderte hochrangige Militärs angeklagt, illegale Abhöraktionen organisiert und eine kriminelle Vereinigung zum Sturz der Regierung gebildet zu haben. In 4300 Aktenordnern wurden auf über 1 Million Seiten Aussagen festgehalten, über die in mehr als 200 Tagen vor Gericht verhandelt wurde. Doch die entscheidenden Fragen wurden nie geklärt: Wer hat diese kriminelle Organisation zum Sturz der Regierung geleitet und wer hat sie finanziert, in wessen Interesse und Auftrag ?

 

Autokraten oder Demokraten ?

Stattdessen wurde das Verfahren mehr und mehr zu einer undurchschaubaren Gerichtsshow in der plötzlich auch alle möglichen Kritiker der Regierung auf der Anklagebank saßen. Mittlerweile kuscht das Militär, das einst übergroß aufgeblasene Verfahren ist fast lautlos in sich zusammengeschrumpft. Alle Angeklagten sind wieder auf freiem Fuss.

Jetzt werden Polizisten in Handschellen abgeführt. Wo immer man solche Bilder sieht, glaubt man, es geht um die Erhaltung des Rechtsstaates. Der Wähler am Bosporus glaubt das nicht. Schon bei einer Umfrage im Januar sagten 60 %, sie halten die Regierung für korrupt und glauben, die Politiker wollten mit ihrem Vorgehen gegen die Justiz (Korruptions-)Vorwürfe gegen sie unter den Teppich kehren. Genauso viele aber, nämlich 60 %, vertrauen auch der Justiz nicht und ebenfalls 60 % glauben, dass die Gülencis im Staatsapparat ihr eigenes Süppchen kochen. Ein denkbar schlechtes Zeugnis für einen Rechtsstaat.  

Was bleibt unter dem Strich? Wer Erdogan zu nahe kommt, der verbrennt – kommentiert ein Journalist die Ereignisse der letzten Tage. Für einen Autokraten ist das ein Kompliment, für einen Demokraten nicht.