Razzien gegen Zeitungen und Fernsehsender, Verhaftung von Journalisten und Regisseuren: Um welche Verbrechen geht es? Wen verfolgt Tayyip Erdogan ohne Rücksicht auf das Ansehen des eigenen Landes?

Wenn Journalisten von Polizisten abgeführt werden, macht das immer einen schlechten Eindruck. Pech, dass es letztes Wochenende auch noch relativ wenig andere berichtenswerte Ereignisse gab. So waren die Razzien der türkischen Polizei bei der Tageszeitung Zaman und dem Fernsehsender Samanyolu fast weltweit in den Nachrichtenmedien.


Dabei sind solche Hausdurchsuchungen seit einiger Zeit an der Tagesordnung. Das Nachrichtenportal Bianet meldete schon im Juli Ermittlungen der Justiz gegen 54 Journalisten, regionale Blätter und die Betreiber von Internetportalen. Im August wurde der Journalist Mehmet Baransu von 17 (!) Polizisten festgenommen, weil er Beamte, „die gegen Terroristen vorgehen, zur Zielscheibe" erklärt habe. Zuletzt wurden am 27. Oktober 23 Polizisten in Mersin festgenommen. Eine Woche zuvor waren 18 hohe Polizeioffiziere verhaftet worden. Die Konten von Hilfsorganisationen werden eingefroren, Börsenmanager werden gefeuert, Geschäftsführer von Arbeitsgeberorganisationen geraten unter Druck, Staatsanwälte verlieren ihren Job. (siehe auch den Artikel unter der Rubrik ‚Innenpolitik': Polizisten in Handschellen)


Sie alle sollen Anhänger des türkischen Predigers Fethullah Gülen sein. Das ist mittlerweile offiziell ein Verbrechen, nicht per Gesetz aber so sagte es die neue „Nationalen Sicherheitsstrategie".


Die „Nationale Sicherheitsstrategie" wird in der Türkei auch die „heimliche Verfassung" genannt, obwohl dieses Dokument in der Verfassung gar nicht vorkommt. Im Artikel 118 der Verfassung heisst es nur: "Der Nationale Sicherheitsrat teilt dem Ministerrat seine Empfehlungsbeschlüsse bezüglich der Bestimmung, Festlegung und Anwendung der nationalen Sicherheitspolitik des Staates und zur Gewährleistung der notwendigen Koordination seine Ansichten mit."

Konkret heisst das: Der Nationale Sicherheitsrat verabschiedet etwa alle 5 Jahre ein Dokument, in dem festgehalten wird: Welches sind die entscheidenden Gefahren für die Nationale Sicherheit, sowohl außen- als auch innenpolitisch. Gleichzeitig legt er fest, wie dieser Bedrohung zu begegnen ist, d.h. er"empfiehlt" dem Ministerrat ein Regierungsprogramm. Eine Mitsprache des Parlamentes bei der Abfassung dieses etwa 30 seitigen Dokuments oder eine Kontrolle durch das Parlament gibt es nicht.


Bis 2005 galten die Staaten Russland, Griechenland und Iran noch als erste Gefahren für die Nationalen Sicherheit. Die wichtigsten Gefahren für die innere Sicherheit waren bis dahin: Ethnischer Separatismus ( damit war die PKK gemeint ), linksextreme Bewegungen und religiöse Reaktion. Als mögliche Gefahren der inneren Sicherheit galten im übrigen auch „christliche Missionare".


Mit der „religiösen Reaktion" war übrigens bis dahin die AKP gemeint. Der Nationale Sicherheitsrat war zu der Zeit noch in der Hand der politischen Gegner Tayyip Erdogans, der Kemalisten.


Bis 2005 war der Inhalt der „Nationalen Sicherheitsstrategie" außerdem streng geheim. Es ist nicht einmal bekannt, wann solch ein Dokument zum ersten Mal verfasst wurde. 2005 wurden Teile dieses „Dokuments zur Nationalen Sicherheit" durch gezielte Indiskretionen bekannt. Eine Kopie wurde auch bei der Hausdurchsuchung eines Mafiosi gefunden, dessen Bande, die sog. Saunagang, Politiker, und hohe Verwaltungsbeamte mit anstößigen Fotos und Videos erpresst hatte.


Mittlerweile ist der Nationale Sicherheitsrat in der Hand der AKP. Nun gilt die „religiöse Reaktion" nicht mehr als Bedrohung für die Innere Sicherheit. Erdogan hat von seinen Gegnern gelernt. Er baut den Staat so zurück, damit jetzt er  alle Hebel für alles in der Hand hält. Es ist keine „neue" Türkei, es ist der Rückbau des Staates zur alten Türkei.


Am 30. November war Tayyip Erdogan zum ersten Mal als Staatspräsident Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates. Auf dieser Sitzung wurde die Neufassung der „Nationalen Sicherheitsstrategie" beschlossen. Nun hat der Kampf „gegen den Aufbau paralleler Strukturen und illegaler Formationen die die Nationale Sicherheit gefährden und die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohen" höchste Priorität. Kurz: Die Gülen-Bewegung wird zum Staatsfeind Nummer eins erklärt.


Damit ist auch das ominöse Wort von den „Parallelstrukturen", zur „Gefahr für die Nationale Sicherheit" geadelt. Keiner weiß, was das sein soll. Sind zwei Verwaltungsbeamte, die in der Kantine über die Regierung schimpfen, schon eine ‚Parallelstruktur' und Gefahr für die Nationale Sicherheit. Ist eine Zeitung, die einen Minister kritisiert, bereits eine gefährliche „Parallelstruktur" zum Presseamt des Ministers?


Außerdem hat die Regierung gerade erst neue Sicherheitsgesetze verabschiedet. Sie waren noch in der Druckerei, als die Polizei die Redaktionsräume der Zeitung Zaman und Samanyolu stürmte. Nach dieser Gesetzesnovelle gibt es keine unabhängigen Ermittlungen der Justiz mehr. Ab jetzt muss immer auch die Regierung eingeschaltet werden. Die kann dann z.B. Ermittlungen stoppen. Neu ist auch, dass die Regierung Polizei zu Festnahmen schicken kann, selbst wenn gegen die Gesuchten nichts handfestes vorliegt. Es genügt jetzt ein „begründeter Verdacht".


Auch diese neuen Sicherheitsgesetze wurden am vergangenen Wochenende zum ersten Mal in der Praxis „getestet". Wer sind diese Anhänger des Predigers Gülen und wie viele sind es? Wieso verfolgt sie Tayyip Erdogan ohne Rücksicht auf das Ansehen des eigenen Landes? Auch das weiß keiner genau. Bekannt ist nur: Der Prediger Fethullah Gülen ist alles andere als ein Vorzeigedemokrat. Er ist ein radikaler Nationalist, der gegen die Friedensverhandlungen Ankaras mit Öcalans PKK ist. Er hält nichts von der Gleichberechtigung der Frau – und schon gar nichts von der Pressefreiheit.


Keiner weiß das besser, als der Journalist Ahmet Sik. Er saß über ein Jahr im Gefängnis, weil er ein kritisches Buch über den Einfluss von Fethulla Gülen bei der Polizei und der Armee geschrieben hatte. Das Buch war noch nicht einmal veröffentlicht, da wurde er als mutmaßlicher Terrorist verhaftet. Es war das erste Mal, dass der Autor eines Buches in Haft kam, noch bevor sein Buch gedruckt war. Verantwortlich dafür waren damals die Anhänger der Gülenbewegung in der Polizei und Justiz.


Ahmet Sik vergleicht heute die Razzien der Erdogan-Polizei gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger sogar mit der „Nacht der langen Messer" im Nazi-Deutschland. Damals, 1934, ermordeten Hitlers Schergen den SA Chef Röhm. Der Vergleich ist mehr als schräg, und vielleicht stimmt daran überhaupt nur: Auch Tayyip Erdogan und Fethullah Gülen waren vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls enge Verbündete ( siehe auch oa. Artikel ), und es gibt da keinen Guten, der gegen den Bösen antritt.


Trotzdem schreibt Ahmet Sik, das könne kein Grund sein, die Verhaftung von Journalisten zu befürworten. Ein Gerichtssaal sei kein Ort, in dem über guten oder schlechten Journalismus entschieden werden dürfe. Mit so wenigen Worten kann ein Journalist einen Staatspräsidenten blamieren. Er deutet damit auch an, wieso Tayyip Erdogan wild um sich schlägt: Es ist kein Zeichen von Souveränität und Stärke, es ist eher die Angst, er könnte seinen Zenit als „Führer der großen Türkei" schon überschritten haben.