Alle Wahlforschungsinstitute der Türkei sagen der Regierungspartei AKP Verluste bei den Parlamentswahlen am 7. Juni voraus. Aber wer wird „gewinnen" ?

 Sonntag, 17. Mai, es ist die erste Großveranstaltung der AKP vor den Parlamentswahlen am 7. Juni in Istanbul: Die Menge ist unübersehbar, ein Meer von Fahnen, ein Lärm, der einem noch nach einer Stunde in den Ohren rauscht , das Dröhnen von hunderttaussenden Stimmen, Trommeln, Musik, Parolen. Man braucht mehr als eine Stunde, um nur auf den Hauptplatz zu kommen. Viele sind mit den über 5.000 Bussen da, die in endlosen Reihen anstehen, um Menschen auf den Straßen rund um den Platz im Istanbuler Stadtteil Maltepe abzusetzen. Allein diese Kundgebung zu organisieren, ohne dass beim Aufmarsch oder Abmarsch das Chaos ausbricht, ist eine Meisterleistung. Eine Million – mehr als eine Million sagen einige - seien zusammengekommen, um den Regierungschef der AKP, Ahmet Davutoglu zu hören. Der kreist erst einmal mit dem Hubschrauber über der Menschenmenge, der Lärm wird ohrenbetäubend, als er mit seiner Frau die Bühne betritt und Nelken in die Menge wirft. Sehen so Verlierer aus ?


„Wir gewinnen! „Schau dich doch um !" schreit Mahmut gegen das Spektakel hinter ihm an. Mit „wir" meint er die AKP. Er kam mit seiner Familie vor rund 20 Jahren vom Schwarzen Meer nach Istanbul. Er fährt Taxi, heute verkauft er Wasserflaschen am Straßenrand für seinen Vater. Der hat einen kleinen Lebensmittelladen. „Ich weiß, wie Istanbul vor 20 Jahren ausgesehen hat – und wie es heute aussieht. Und es wird noch schöner! Aber nur mit der AKP! Die anderen reden doch nur!" Sein Vater hat sich vor drei Jahren über die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI eine Wohnung in Istanbul gekauft, auf Pump natürlich. Er ist einer von gut drei Millionen, der auch finanziell „bei der Regierung" tief in der Kreide steht.


„Wer hat's gemacht ? „ Die AKP!"


Immer wieder ruft Ahmet Davutoglu Wirtschafts- Verkehrs- Bauprojekte auf und dann zur Menge: „Wer hat's gemacht !!!?!" „Die AKP!!" – schreien Tausende zurück. Zur gleichen Zeit wird der Grundstein für eine neue U-Bahnlinie in Istanbul gelegt, ein Flughafen im äußersten Südosten der Türkei wird eingeweiht und einer am Schwarzen Meer. Der Benzinpreis wird gesenkt, die Bauern bekommen ihre Kredite gestundet – und und und ... und trotzdem sagen alle Wahlumfragen: Die AKP wird bei den Wahlen verlieren – es ist nur noch nicht klar, wiewiel. 2011 gewann sie fast 50 % der Stimmen, dieses Mal werden es wohl mindestens 5 % weniger, vielleicht sogar mehr als 10%. „Es geht weiter aufwärts !", das glauben lange nicht mehr soviele wie früher und auch die Debatten um Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und autoritären Führungsstil hinterlassen ihre Spuren.


Der Mann, der alle Träume der Regierungspartei AKP und des Staatspräsidenten Tayyip Erdogan zum Platzen bringen könnte, sitzt gut gelaunt in einem Mittelklassewagen am Steuer und singt ein Lied mit, das er im Autoradio hört. Natürlich ist auch das eine Wahlkampf-Inszenierung. Vorgestellt wird Selahattin Demirtas, 42 Jahre alt, der Vorsitzende der HDP (Die demokratische Partei der Völker). Die Partei gab es bei den letzten Wahlen (2011) noch nicht. Damals gab es die BDP, eine „Kurdenpartei" und die bekam 2011 gerade mal 6,6 % oder 2,8 Mio Stimmen. Selahattin Demirtas und seine Parteifreunde waren Mitglieder der BDP, kandidierten aber als „Unabhängige". Nur so kamen 29 von ihnen als Abgeordnete ins Parlament, denn in der Türkei gilt eine 10% Hürde für Parteien, aber nicht für unabhängige Kandidaten. Jetzt tritt die HDP als Partei an und die meisten Forschungsinstitute ermitteln bislang, sie könnte mehr als 4,6 Mio Stimmen gewinnen und so über die 10 % Hürde kommen.
Gegründet wurde die HDP erst im Sommer 2013, für viele überraschend und mit vielen altgedienten Politiker/Innen aus der BDP. Weder die Gründung der HDP, noch der Übertritt aller BDP Abgeordneten zur HDP wurde den Wählern je nachvollziehbar erklärt.


Von der Kurdenpartei zur türkischen Partei


Selahattin Demirtas, der HDP-Vorsitzende, ist redegewandt und weiß sich in den Medien seriös zu präsentierten. Er ist Kurde, wurde in der ostanatolischen Stadt Elazig geboren, sein Bruder saß wegen Mitgliedschaft in der PKK mehr als 10 Jahre im Gefängnis. Er kandidiert nun zum dritten Mal für das Parlament, obwohl das Parteistatut eigentlich nur zwei Kandidaturen erlaubt. Genaugenommen ist er auch nur der Co-Vorsitzende der Partei. Figen Yüksekdag ist die Frau neben ihm im Parteivorsitz, von ihr aber hört man außerhalb der Partei praktisch nichts.

„Der Regierungschef und der Staatspräsident machen uns überall schlecht" sagt Demirtas am Steuer seines Mittelklassewagens in die Kamera eines Nachrichtensenders. Dabei klingt er gar nicht empört. „Wer einer anderen Partei seine Stimme gibt, der ist für uns kein Feind !" sagt er später. Das soll demonstrieren: Wir erklären nicht jeden Andersdenkenden zum Feind, so wie die AKP. „Wir sind für Meinungsfreiheit und Demokratie und für gleiche Rechte auch für Minderheiten", das sei das Wahlprogramm der HDP, so das Parteivorstandsmitglied Saruhan Oluc


Vahap Coskun von der Forschungsgruppe SETA sieht das leidenschaftsloser. Er hält die HDP für ein Projekt des PKK Führers Abdullah Öcalan. Dass es zahlreiche Verbindungen zwischen der PKK und der HDP gibt, wird auch in der HDP keiner abstreiten. 2013, nach einem Besuch bei Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, lässt sich Selahattin Demirtas von der kurdennahen Zeitung Özgür Gündem (Freie Tagesordnung) so zitieren: Öcalan sei nicht nur der Führer des kurdischen Volkes, sondern für ihn persönlich wie ein Verwandter. „Als ich ihm meine Hand gegeben habe, wollte ich nicht mehr los lassen.

 

Das Sammelbecken

 

Öcalan, so Vahap Coskun, habe begriffen, dass viele Kurden gar nicht mehr im „Kurdengebiet", im Südosten der Türkei, leben, sondern im Westen und dass viele Kurden auch künftig mit den Türken zusammenleben wollen. Man könne für die Kurden nur mit einer Partei antreten, die für die ganze Türkei Politik macht. Die HDP will keine „Kurden"-Partei mehr sein. Sie wolle Ansprechpartner und Sammelbecken für alle sein, die mit der AKP und den anderen traditionellen Parteien in der Türkei nichts mehr zu tun haben wollen.


Tatsächlich waren schon bei den Gezi-Protesten im Frühsommer 2013 Fahnen der BDP zu sehen. Wo immer sich seither Unmut regt, sind auch HDP Parteianhänger zu sehen. So wurde vor wenigen Tagen mit Demonstrationen an die 301 Opfer des Grubenunglückes von Soma von vor einem Jahr gedacht – und der halbe Parteivorstand der HDP marschierte dort mit Transparente wie: „Wir wollen Gerechtigkeit – die Schuldigen müssen zur Rechenschaft gezogen werden". In der Bursa, am Marmarameer, unterstützt die HDP streikende Arbeiter. Seit Wochen blockieren dort Tausende in der Automobilindustrie die Produktion und fordern mehr Lohn. Die Fahrzeugindustrie ist führend am Bosporus und und in Bursa werden zwei Drittel aller Autos des Landes hergestellt, 2014 waren das 1,2 Millionen.

 

Vieles kann sich ändern

 

Vor wenigen Tagen marschierten 4.000 Anhänger der Schwulen- und Lesbenvereine in Ankara gegen „Homofobi" und die Gewalt gegen Schwule – und wieder war die HDP mit dabei. Der 37 jährige Baris Sulu bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und ist Kandidat der HDP in der Studentenstadt Eskisehir. Baris Sulu arbeitet seit 15 Jahren bei Schwulenorganisationen und – Magazinen mit. „"Wissen Sie", sagt er, „ich bin seit Anfang an auch auf den HDP Veranstaltungen gewesen. Dort wurde immer auch über sexuelle Identität und Orientierung ganz offen gesprochen. Natürlich gibt es in der HDP auch Mitglieder, die gegen Schwule sind – aber man kann in der Partei daran arbeiten, das abzubauen". Und dann sagt er noch „Wenn nur alle Kurden in Eskisehir die HDP wählen, dann haben wir schon wieder ein Mandat gewonnen".


Die Aleviten sind eine Minderheit unter den Muslimen. Sie haben traditionell für die große Oppositionspartei CHP gestimmt. Aber viele sind von der CHP enttäuscht. Ihnen verspricht Selahattin Demirtas, sich entschiedener für ihre Rechte einzusetzen, als die CHP bisher. Allen, die das zunehmend autoritäre Gehabe der AKP und die „Alleinherrschaft Tayyip Erdogans" satt haben, verspricht die HDP: Mit uns gibt es keine neuen Sicherheitsgesetze und keinen Systemwechsel, vor allem kein Präsidialsystem, wie Tayyip Erdogan es will.
Ein schlüssiges Programm ist das noch nicht. Trotzdem sind die Aussichten für die HDP gut über die 10% Hürde zu kommen. So sagen auch unzufriedene (Jung)wähler/Innen, die sich bislang von niemanden vertreten sahen: Ich bin kein überzeugter HDP-Anhänger, aber wenn die große Oppositonspartei CHP bei diesen Wahlen zwei oder drei Prozent an Stimmen gewinnt, dann ändert sich gar nichts. Wenn aber die HDP über die 10 % Hürde kommt, dann kann sich vieles ändern.


Der Anfang vom Ende ?


Das stimmt. Dann wäre die HDP mit mindestens 60 Sitzen im Parlament vertreten. Die Mehrheit der AKP wäre dahin, um mit einer neuen Verfassung dem Präsidenten Tayyip Erdogan weitreichende Rechte einzuräumen. Möglicherweise könnte die AKP nicht einmal mehr alleine regieren – und benötigte einen Koalitionspartner. Vielleicht entsteht dann nach und nach mit der HDP eine wählbare Alternative zur AKP. Das wäre der Anfang vom Ende eines übermächtigen Tayyip Erdogan.


Soweit ist es noch lange nicht. Erdogan aber ist ein erfahrener Politiker, er merkt, wie sich die Situation im Lande ändert. Vor wenigen Tagen klagte in einem Fernsehinterview, die Partei und ihre Anhänger seien in Anatolien im Wahlkampf nur schwer zu mobilisieren. Sicher, eine Kundgebung mit 1 Million Teilnehmern in Istanbul ist eine wuchtige Demonstration. Er weiß aber auch, dass die Partei noch zwei Tage zuvor überall verbreiten ließ, es würden 2 Millionen erwartet. Der stellvertretende Regierungschef Yalcin Akdogan (AKP) drohte inzwischen sogar, wenn die HDP bei den Wahlen über 10% der Stimmen bekomme, dann sei der Friedensprozess mit der PKK in Gefahr.


126 tätliche Übergriffe auf Büros und Aktivisten der HDP hat der türkische Menschenrechtsverein bislang in diesem Wahlkampf gezählt, darunter zwei Bombenattentate auf die Parteigebäude in Mersin und Adana. Für die HDP ist jeder laute Knall ein Imageschaden, denn sie muss den Nimbus einer „Bürgerkriegspartei" loswerden. Nur dann wird sie auch von den mehrheitlich konservativen türkischen Wählern akzeptabel. Bislang muss sie sich noch ins Zeug legen, um nur über die 10% Hürde zu kommen. Die Mehrheit der Wähler findet sich im rechtskonservativen Lager, erinnert die „Organisation zur Überwachung der Demokratie" in Ankara. Wenn die AKP Stimmen verliert, dann können wahrscheinlich vor allem rechte Parteien wie die MHP (ehemals bekannt auch als „Graue Wölfe") mit einem Stimmenzuwachs rechnen.