Dieter Sauter
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Das war’s – war’s das ?

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Erstellt: 25. Juni 2018

Jetzt ist ausgezählt – und Tayyip Erdogan hat auf der ganzen Linie gewonnen – fast auf der ganzen Linie. Wieso? Und was heisst das?

 

18 istanbul

Das Wahlergebnis zeigt zunächst: Wer immer eine „‚Wechselstimmung“ in der Türkei erkannt haben will – er hat sich getäuscht. (Siehe auch Artikel:  Und der Wahlsieger ist ...  oder: Wer wählt eigentlich noch Tayyip Erdogan ) Tayyip Erdogan bleibt der unangefochtene politische Führer in der Türkei – auch nach 25 Jahren politischer Karriere am Bosporus. Laut Wahlkommission wurde er bereits im ersten Wahlgang mit 52,4% der Stimmen gewählt. Die halbe Nacht fuhren Autokorsos mit seinen Anängern  laut hupend durch die großen Städte und feierten seinen Wahlsieg.

Erdogans Wahltaktik ist aufgegangen. Er hat mit seiner AKP wie schon zuvor mit alten und neuen (Bau-)Projekten geworben. Allein in Istanbul sollen 71 große Renovierungsprojekte für Straßen, Plätze und Parks innerhalb der nächsten drei Jahren fertiggestellt werden. Die Wirtschaft wurde mit billigen Krediten geflutet und hunderte von Mio TL für Werbekampagnen ausgegeben.

Schließlich sprach er vom Ende des Ausnahmezustandes, wenn er gewählt werde, wohl vor allem auch, um Stimmen in den meist von Kurden bewohnten Regionen zu gewinnen. Zum gleichen Zweck wurde hinter vorgehaltener Hand verbreitet, es könnte dann sogar wieder Verhandlungen für einen Frieden geben.

Zuletzt widersprach die Regierung auch nicht den Meldungen, nach der Wahl könne es auch wieder die Möglichkeit geben, sich mit einem gewissen Geldbetrag vom Wehrdienst freizukaufen.

Auch die AKP bleibt stärkste Partei mit 42,5 %, die größte Oppositionspartei liegt 20% hinter ihr. Doch es fehlen ihr 8 Sitze im Parlament zur absoluten Mehrheit - und sie hat im Vergleich zur letzten Wahl rund 3 Mio Wähler verloren. Selbst in ihren Hochburgen wie Konya, Kayseri, Erzurum hat sie bis zu 10 % eingebüßt.

War es die immer offenere Abkehr von demokratischen Grundregeln, die Zensur, die ungeschminkte Übernahme der Rechtssprechung durch die Politik, die zu den Stimmenverlusten der AKP geführt hat? Das war wohl nur für wenige ausschlaggebend.

Man sollte nicht vergessen: Anfang der 90iger Jahre durften zwar alle im Fernsehen nackte Busen bewundern, Sendungen wie „TuttiFrutti“ waren Einschaltrenner - aber ein Kopftuch tragen war verboten. Die AKP drehte das Prinzip einfach um – machte zum ersten Mal ernst mit der Dienstleistung des Staates an den Bürgern – und eilte damit von Wahlsieg zu Wahlsieg. Die AKP war die Partei der Armen, Ungebildeten und Unbeachteten, die zu Millionen vom Land in die Städte zogen und versuchten, dort zurecht zu kommen.

Doch in den vergangenen Jahren ist die AKP mehr und mehr zu einer „normalen“ Partei geworden, mit Vetternwirtschaft, Korruption und Selbstherrlichkeit, wie einst die ‚alten‘ Parteien der Özals, Cillers und Demirels oder Baykals.

Aber - was noch wichtiger ist – die AKP hat eine Entwicklung der Gesellschaft ‚verschlafen’. Sie hat übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten eine neue Generation herangewachsen ist, der sie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Mit jeder Wahl durften 100 tausende junge Wähler zum ersten Mal ihre Stimme abgeben, allein dieses Mal waren es 1,65 Mio.

Mit jeder Wahl nahm die Zahl der Jungwähler, die der AKP ihre Stimme gaben, ab. Sie leben vor allem in den Metropolen – haben einen Internetanschluss und wehren sich gegen jede Einmischung in ihr Privatleben. Rund 10 Mio Wähler sind zwischen 18 und 25 Jahren alt , das sind bald 20 % der Wähler. Als ein türkischer Rapper wegen eines Songs verhaftet wurde, weil er „zum Drogengebrauch“ aufrufe, da war sein Song im Internet über 30 Mio mal abgerufen worden. Dazu kommt: Unübersehbar sind die Fortschritte unter der AKP beim Straßenbau, dem Wohnungsbau, im Gesundheitswesen – nur das Bildungswesen wird von Jahr zu Jahr mit einer neuen erfolglosen Reform verschlimmbessert.

Tayyip Erdogan hatte – wenn auch spät – diesen Trend erkannt, der Partei „Materialermüdung“ vorgeworfen und versucht, das Ruder in letzter Minute herumzureißen. Aber auf die Jugend zugehen, ist nicht sein Ding. Eher weiht er einen neuen Flughafen ein. Jetzt hat er in seiner Rede in der Wahlnacht eingeräumt, man habe die Botschaft des Wählers verstanden und werde die „Mängel“ beseitigen.

Die anderen Parteien sind in diesem Punkt übrigens nicht besser. Es gibt von keiner einzigen Partei auch nur den Versuch, sich besonders mit den jungen Wählern zu befassen. Auch nicht von der bislang größten Oppositionspartei CHP. Sie ist der Verlierer der Wahl.

Ihr Präsidentschaftskandidat, Muharrem Ince, hat mit 14 Mio Stimmen (30,8%) zwar einen Achtungserfolg erzielt. Seine Partei, die CHP, hat aber gegenüber der letzten Wahl noch einmal 1 Mio Wählerstimmen verloren. Die Partei wird erneut mit Gerangel um die Führung beschäftigt werden. Seit Jahrzehnten nun enttäuscht die Partei bei jedem neuen Wahlgang die Hoffnung vieler Wähler auf Veränderung – weil sich die Partei selbst gegen jede Änderung in den eigenen Reihen sperrt.

Wie wenig Wechsel der türkische Wähler wollte , erfuhr vor allem die Präsidentschaftskandidatin Meral Aksener mit ihrer neuen IYI Partei. Sie hatte sich ja von der traditionellen rechtsnationalistischen MHP (‚graue Wölfe’) abgespalten, um eine neue rechtsnationalistische Bewegung zu begründen. Die Wähler gaben aber nicht ihr, sondern der MHP ihre Stimme. Meral Aksener erhielt sogar deutlich weniger Stimmen als der Kandidat der kurdennahen HDP, Selahattin Demirtas, der seinen Wahlkampf von einer Gefängniszelle aus führen musste. Er ist mit seiner HDP auch ein Wahlsieger. Er und seine Partei haben in gegenüber der letzten Wahl sogar zugelegt, trotz massivem Druck durch Polizei und Justiz. Hunderte Parteifunktionäre und Bürgermeister und Stadträte im Südosten der Türkei waren verhaftet worden.

Die Fronten stehen nach der Wahl also so wie vor der Wahl. Für Tayyip Erdogan wird es kein unüberwindbares Problem werden, die fehlenden 8 Stimmen für eine Mehrheit im Parlament zu finden – ob durch den Übertritt von Abgeordneten anderer Parteien zur AKP oder durch wie auch immer geartete Koalitionen wird man sehen. Sowieso hat mit dem neuen Präsidialsystem, das ab jetzt in Kraft ist, das Parlament nicht mehr viel Einfluss auf die Exekutive im Land.

Kein Wort verlor Tayyip Erdogan bei seiner ersten Rede nach der Wahl übrigens zur den bedrohlichen Wirtschaftsdaten, zum Verhältnis zu den USA und Russland oder zur EU oder gar zu den Feldzügen der türkischen Armee in Syrien und Irak. „ Eine große Türkei – braucht einen mächtigen Führer: Recep Tayyip Erdogan!“ – das war die Parole, mit der Erdogan angetreten ist. Nun ist er praktisch der Alleinherrscher am Bosporus. Was das für das politische System am Bosporus bedeutet wird erst nach und nach sichtbar werden. Es wird ein tiefer Einschnitt in der Geschichte des Landes werden. Ob Erdogan auch in der Lage ist, mit all der Macht das Land voranzubringen, ist nicht sicher. Sich durchzulavieren wie in den vergangenen drei Jahren, wird nicht gehen.

 

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