Portraits von Arbeitern einer einzigen Großbaustelle am Goldenen Horn in Istanbul: Sie stammen aus allen Regionen der Türkei. Oft kommen die Schweisser oder Betonbauer aus derselben Stadt.

Viele sehen sie ihre Familie nur wenige Wochen im Jahr. Sie wandern von Baustelle zu Baustelle, es sind die modernen Nomaden des Landes.


Die Aufnahmen entstehen zwischen 2006 und 2007. Viele Arbeiter scheinen zum ersten Mal vor einem Fotografen zu stehen. Sie blicken nur kurz von der Arbeit auf, und zeigen, wie viel Leben eines Menschen, einer Region, eines Landes in einem Gesicht zu sehen ist.


Die Portraits auf dieser Website sind eine Auswahl von Arbeiterportraits dieser Baustelle, die auf mehreren Ausstellungen in der Türkei, auf dem Filmfest in Thessaloniki (Griechenland) und dem Filmfest in Schwerin (Deutschland) gezeigt wurden.

 

Arbeiterportraits in Istanbul

( 4. Januar 2008 )  Wenn die Arbeiter mittags aus dem Kantinenzelt zurück auf die Baustelle gehen, zeigt das Thermometer über 30 Grad. Nach und nach beginnt das Hämmern, Maschinen laufen an, die Vorarbeiter schreien über den Lärm hinweg, durch das alte Elektrizitätswerk von Istanbul weht bald hellgrauer Staub, der sich auf Augenbrauen und Wimpern legt und dringt selbst durch die Kleider hindurch auf die Haut dringt. Ein großer Investor lässt von etwa 500 Arbeitern das erste E-Werk der Türkei, ein riesiger Trakt aus dem Jahr 1915, in ein Kulturzentrum umbauen. Ab und an ein Warnschrei, dann kracht ein Stahlträger aus 30 Metern Höhe in die alte Turbinenhalle. Kaum gesichert turnen Schweisser auf Gesimsen, die wenig breiter sind als eine Hand und zerteilen die alten Eisenstreben. Manche tragen Atemmasken zum Schutz vor Asbeststaub.

Ich beginne mitten im Sommer mit den Aufnahmen. Zunächst begleitet mich ein Mitarbeiter der Bauleitung – doch bald lässt man mich allein das weitläufige Gelände am Goldenen Horn durchstreifen. Eigentlich hatte ich erwartet, die Arbeiter würden zurückhaltend, abwehrend oder gar abweisend reagieren, wenn ich sie frage, ob ich sie fotografieren dürfe. Aber es kam ganz anders.

Nur wenige Tage, nachdem ich die ersten Portraits aufgenommen hatte, war ich fast überall auf der Baustelle bekannt – auch auf den Stockwerken und in Bauten des Geländes, die ich noch nie zuvor betreten hatte. Manche schauen erwartungsvoll auf, wenn ich vorbei gehe, später höre ich gar hier und da von den Gerüsten: „Hey, Fotograf, komm' hier herauf, hier musst du fotografieren!" Viele stehen zum ersten Mal einem Fotografen gegenüber. Wer nimmt sonst schon Notiz von einem Bauarbeiter? Sie können sich gar nicht vorstellen, dass sie jemand ablichten will. Zunächst sind sie stolz, manche verlegen, beinahe alle aber werden nach zwei Minuten ungeduldig: Was macht der denn mit mir so lange? Die Meister allerdings winken fast alle ab. Sie wollen nicht – quasi auf einer Stufe mit den Arbeitern – fotografiert werden.

Ich notiere zunächst von jedem seinen Namen, das Alter und Beruf – bis ich mit der Zeit feststelle: Die Arbeiter stammen aus allen Teilen der Türkei, von der Grenze zum Iran im äußersten Osten des Landes, bis zur Grenze nach Bulgarien im Westen, nur Istanbul entspringt keiner. Sie fristen das Leben von Nomaden in der modernen Türkei. Viele sind verheiratet, aber meist sehen sie ihre Familie nur wenige Wochen im Jahr. In Istanbul leben sie in 20 -, 40- oder 60- Mann-Zelten, ein Feldbett, daneben ein Hocker, das ist ihr temporäres Heim. Einige der Vorarbeiter hausen in Baucontainern, „aber das ist nicht besser", meinen die meisten. „Im Sommer kriegst du keine Luft in so einer Blechdose, da musst du nachts irgendwo draußen schlafen". In den Zelten klappen sie einfach die Planen an den Seiten hoch, „wenn nur die Stechmücken nicht wären!!".

Nur wenn es regnet, haben es die Vorarbeiter in den Containern besser, denn dann gleicht das riesige Gelände einem See und viel froh darüber, wenn sie wenigstens die Bettdecke und ihre drei Habseligkeiten vor der Nässe retten können. Trockene Kleider am Leib gibt es an Regentagen sowieso nicht, wo sollte man die auch trocknen.

Die meisten wissen aber, sie gehören zu den Privilegierten unter den Wanderarbeitern am Bosporus. Sie erhalten einen Stundenlohn von umgerechnet 3 bis 8 Euro, das ist im Osten der Türkei, bei einer Arbeitslosigkeit von 50 bis 70 Prozent unvorstellbar viel – und sie sind sozialversichert.

Die 5.000 Hilfsarbeiter aus dem Osten zum Beispiel, die jedes Jahr in Istanbul bei der Zwiebelernte helfen, schuften von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für nicht einmal 6 Euro am Tag, in Plastikzelten, ohne Trinkwasser oder Toiletten – und natürlich ohne Versicherung. Und die Gefahr beginnt schon bei der Anreise. Dutzende kommen immer auf dem Weg zum jährlichen Ernteeinsatz ums Leben, weil sie einfach von den Ladeflächen der LKWs fallen, mit denen sie über die Landstrassen gekarrt werden.

Heimweh plagt alle auf der Baustelle. Auch wenn noch Wochen oder Monate bevorstehen, jeder zählt die Tage bis zur Heimreise. Viele schreiben abends ein SMS nach Hause - Telefonieren käme zu teuer – oder sie sitzen mit ihren Freunden aus der Heimat zusammen und rauchen. Meist sind die Arbeitsgruppen in der gleichen Region beheimatet: Die Schweisser kommen aus Kahramanmaras im Osten der Türkei, die Verschaler und Betonbauer aus Ordu am Schwarzen Meer und die Metallarbeiter aus Kayseri in Zentralanatolien. Vor den Bauzaun, in die Stadt, gehen sie kaum ein oder zwei Mal in der Woche.