Die Galatabrücke - für die einen ist sie ein Anlass zum Staunen, andere meinen dagegen, man könne das "Schwarzweissgefühl" Istanbuls, die Melancholie, die Tristesse, am besten auf der Galatabrücke erleben.

 

Es ist ein grosser Unterschied, ob man eine Stadt als Urlauber durchstreift oder dort wohnt und den gleichen Weg – zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit – einschlägt, jeder weiss das. Es gibt wenige Bauwerke in der Stadt, an denen das so deutlich wird wie an der Galatabrücke, die über das Goldene Horn das alte Stadtzentrum (Sultanahmet/Eminönü) mit dem neuen (Beyoglu) verbindet, nach wie vor eine der wichtigsten Verkehrsverdingungen in Istanbul.

Die meisten Reisenden bestaunen "das bunte Treiben" auf der Galatabrücke, die Fischer, Bettler, fliegenden Händler und den nicht endenden Strom der Fussgänger, die den Blick fest auf das Pflaster gerichtet, von der einen zur anderen Seite eilen, "wildverwegene Gesichter" könne man da sehen, schwärmen die Reiseführer, die Brücke sei gar der "eigentliche Lebensnerv" der Stadt. Ausserdem solle man sich im "Untergeschoss" der Brücke ein Bier bringen lassen und ein Fischgericht bestellen, auch wenn das Bier teuer ist und sich das Fischgericht leckerer anhörte, als es schliesslich schmeckt, "aber der Ausblick!, der Ausblick!, das Wasser, die Schiffe, die Minarette!"

Andere, die in der Stadt aufgewachsen sind und leben, meinen dagegen, man könne das "Schwarzweissgefühl" Istanbuls, die Melancholie, die Tristesse, am besten auf der Galatabrücke erleben, so zum Beispiel Orhan Pamuk. "Die Schwarzweißatmopshäre, die mit dem melancholischen Charakter der Stadt unauflöslich verbunden ist ... lässt sich am besten verstehen, wenn man (sich) an einem Wintertag ... in das Menschengewühl im Zentrum der Stadt an der Galatabrücke stürzt und dort mit ansieht, in was für farblosen, ausgebleichten, mausgrauen Kleidern die Leute herumlaufen. Beim Anblick der Istanbuler, die im Gegensatz zu ihren reichen, stolzen Vorvätern kaum einmal ein kräftiges Rot, Orange oder Grün tragen, mag es dem Fremden erscheinen, als verdanke sich diese Unscheinbarkeit irgendeiner besonderen Moralauffassung. Dem ist natürlich nicht so, es herrscht nur eine tiefe Melancholie vor ... Das seit hundertfünfzig Jahren auf der Stadt lastende Gefühl des fortwährenden Scheiterns" sei dieses "Schwarzweissgefühl. Die zahllosen prächtigen Moscheen, verfallenen Gewölbe , versiegten Brunnen und bröckelnden Fassaden einstiger herrschaftlicher Residenzen erinnerten die Menschen täglich und stündlich daran, dass sie "Überbleibsel eines grossen Reiches" sind, dass Kultur, Macht und Reichtum verloren gingen und damit auch ihr Leben ärmer und orientierungsloser wurde.

Vielleicht wird diese Melancholie auf der Galatabrücke besonderes deutlich, weil sie einst als Symbol der Macht und Grösse des Padischahs und seines Reiches gedacht war. Schon 300 Jahre vor der Einweihung des ersten Übergangs über das Goldene Horn hatten Michelangelo und Leonardo da Vinci beim Sultan in Konstantinopel mit Entwürfen für eine elegante und reich verzierte Holzkonstruktion als Baumeister beworben. "So Gott will, werdet Ihr ... Weisung erteilen, indem Ihr diesen Euren Diener stets zu Euren Diensten wisst ", bittet Leonardo da Vinci in seinem Brief an den Sultan um den Auftrag. Der Papst in Rom aber drohte mit Exkommunikation, wenn einer es wagen sollte, diesem Heiden und dieser Geisel der Christenheit zu dienen, und so blieb es zunächst bei schönen Plänen.

Als 1992 die neueste Konstruktion der Galatabrücke eingeweiht wurde, sind sich alle einig: Schön ist sie nicht, eher ein Bauwerk in "Schwarzweiss", zwei hässliche Metallklötze markieren die Träger einer Konstruktion, die roh, plump und viereckig von einem Ufer zum anderen reicht, eine deutsch-tükische Koproduktion übrigens (Thyssen). Es ist der vierte Bau, seit der Sultan vor gut 160 Jahren (1845) zum ersten Mal eine Holzbrücke über das Goldene Horn in Auftrag gab. Der Padischah war damals von der "Europamode" ergriffen und wollte nicht mehr im alten Topkapi Palast wohnen, sondern in einem "Modernen Serail", einem der vielen Schlösser, die zu dieser Zeit von italienischen Architekten am Bosporus erbaut wurden. Die Brücke sollte ursprünglich nur dazu dienen, den Sultan rascher und kommoder zu seinen Baustellen zu bringen.

Zur gleichen Zeit aber spottet das alte Europa schon über den "kranken Mann am Bosporus". Drei Mal wird die Brücke neu konstruiert und aufgerichtet. Als sie schliesslich 1912 ihre vorläufig letzte und feste Form erhält, war der Untergang des Osmanischen Reiches bereits zum Greifen nah. So ist der Niedergang des Weltreiches der ständige Begleiter beim ihrem Bau, vielleicht empfindet mancher auch deshalb das "Schwarzweissgefühl" der Stadt hier besonders deutlich.

Für die Einwohner Istanbuls war die Überquerung des Goldenen Horn' zunächst übrigens oft ein Ärgernis, denn selbst Fussgänger mussten bis 1930 eine Maut bezahlen – und sie wurden wohl nicht selten von den rüden Brückenwächtern schikaniert. Ein Konfektionshaus machte sogar Werbung mit besonders "reissfester" Kleidung, die selbst den Übergriffen Kontrolleure auf der Galabrücke standhielten. Damals legten noch Fischerboote an der Brücke an, Geschäfte und Kneipen belebten den Übergang, von türkischen Schriftstellern immer wieder mit vielen Adjektiven beschrieben, kaum ein Protestmarsch lässt die Brücke aus, in den 70iger Jahren erklären linke Studenten den Arbeitern und Fischern beim "billigsten Bier der Stadt" die Revolution – bis Statiker auf eine Neukonstruktion drängten, wolle man ein grosses Unglück vermeiden.

Wer heute keine Zeit zum Fischen oder Flanieren hat, fährt mit der Strassenbahn über die Brücke, die seit wenigen Jahren auch wieder über das Goldene Horn führt. Das geht meist rascher als sich in Verkehrsstau zu quälen. Für den Urlauber, der von der einen Seite zur anderen schlendert, hat der Übergang selbst nichts an Romantik zu bieten – ausser den zahllosen Hobbyfischern vielleicht, die Tag und Nacht ihre Angel in die Strömung unterhalb der Brücke halten, und so manches kleine Fischchen in den mitgebrachten Plastikeimern nach Hause tragen, auch wenn es Wissenschaftler gibt, die angesichts der Wasserverschmutzung vom Verzehr dieser Fische abraten. Aber es reicht ja auch, wenn man im Untergeschoss ein Bier trinkt – und den Ausblick geniesst.