Kübelweise Kritik muss Ankara für die Einschränkung der Pressefreiheit einstecken. Zensur ist in der Türkei nicht neu – aber lässt sie sich durchhalten?

Eigentlich wird jedes internationale Ereignis am Bosporus, jede Konferenz und jede Messe von Rang in den türkischen Medien gefeiert: So sind wir heute! Wir gehören zu den Mächtigen der Welt!


Umso erstaunlicher war: Das Treffen der Außenminister der NATO in Antalya (13./14.05.) fand in der türkischen Presse praktisch nicht statt. Dabei liegt die Türkei im Zentrum aller Konflikte die dort beraten wurden, es ging um die Konfrontation mit Russland in Sachen Ukraine und Krim, und dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak und Syrien.


Wer sich die Medienlandschaft in der Türkei betrachtet, dem fällt inzwischen vor allem auf, was dort NICHT steht. Wahrscheinlich wissen mehr als 90% der Zeitungsleser am Bosporus nicht, dass es ein Minsker Abkommen gibt. Möglicherweise weiss die Mehrheit nicht einmal, dass Russland die Krim völkerrechtlich annektiert hat. Wie steht die Türkei in diesen Fragen zu Russland? Wieso trägt Ankara die Wirtschaftssanktionen des Westens nicht mit? Gibt es in diesem Konflikt einen „dritten Weg" für das NATO Mitglied und den EU-Beitrittspartner Türkei? Debatten gibt es darüber nicht – stattdessen Artikel über den Bürgermeister von Ankara, der die Außenamtssprecherin der USA eine „dumme Blondine" nannte, weil sie das brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen Demonstranten vor zwei Jahren kritisierte.


Zu Fortschritten und Schwierigkeiten der Koalition gegen den IS gibt es auch nichts. Seit Wochen wird in Deutschland und nun auch EU weit darüber gestritten, wie der wachsenden Zahl von Flüchtlingen begegnen werden könnte. Mehr als 2 Millionen Menschen sind vor dem Krieg in Syrien und Irak in die Türkei geflohen. Weder im türkischen Parlament noch in den Medien ist das ein Thema – wochenlang dazu nicht einmal eine Meldung. Dabei wird die Lage der Flüchtlinge in der Türkei immer prekärer ( siehe auch Artikel – Innenpolitik- : „Keine Flüchtlinge mehr!" ) Erst vor wenigen Tagen (4.5.) sind in der Stadt Urfa, nahe der syrischen Grenze, Türken und syrische Flüchtlinge aufeinander losgingen. Türken haben Geschäfte der Syrer mit Steinen attackiert und 3 Flüchtlinge durch Messerstiche schwer verletzt, eine Woche später (11.5.) haben Türken in Istanbul Häuser und Geschäfte von syrischen Flüchtlingen angezündet.


Tagelang wurde in den westlichen Medien über das schwere Erdbeben in Nepal berichtet – am Bosporus war das eine Meldung unter vielen. Dabei ist die Türkei das Land, das weltweit zu den besonders erdbebengefährdeten Territorien zählt und die Hälfte aller Türken meinen, das Haus, in dem sie leben, sei nicht erdbebensicher (Umfrage vom Oktober 2010). Will die türkische Armee zusammen mit Saudi-Arabien in Syrien gegen den Iran Krieg führen? Was hat es mit der Beteiligung der Türkei an den Militäreinsätzen Saudi-Arabiens im Jemen auf sich ? Was bedeuten die Atomverhandlungen mit dem Nachbarland Iran ?

Wer nur die türkische Presse kennt, scheint in einer anderen Welt zu Hause.


Die türkischen Medien stellen keine „Öffentlichkeit" in diesen Fragen her, oder gar eine „kritische Öffentlichkeit", die dem Bürger am Bosporus die Möglichkeit schafft, sich über verschiedenen Argumente in solche Fragen zu informieren, um sich dazu eine Meinung zu bilden.


Zum NATO Gipfel in Antalya erfahren die Leser der türkischen Zeitungen gerade, dass ihr Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, mit dem amerikanischen Außenminister 45 Minuten lang in einem Hotelzimmer gesprochen habe und Davutoglu danach erklärte, man sei sich über das Vorgehen im Bürgerkrieg in Syrien immer noch nicht einig. Grob gesagt ist am Bosporus öffentlich, was die Regierung sagt und unternimmt - und das wird meist für gut befunden. In der Regel stellen auch die Blätter der Opposition keine Fragen, über die man am Bosporus nicht spricht.


Das weiß auch der türkische Leser. Im Februar letzten Jahres sagten fast 60 % bei einer Umfrage (MetroPoll): Ja, sie glauben dass die Regierung bei der Presse eingreift. Das ist man gewohnt. Die Presse am Bosporus war fast immer reglementiert, seit die erste Zeitung 1831 verkauft wurde. Es begann mit dem Strafgesetz 1858, das alle Zeitungen verbot, die den Padischah oder seine Regierung kritisierten.


Nach der Gründung der Republik Türkei wurde 1925 ein ähnliches Gesetz erlassen, das Gesetz zur Aufrechterhaltung der Ordnung (Takrir-i Sükün Kanunu), das auch alle Zeitungen verbot, die „die Autorität im Lande" untergraben könnten. Die Presse muss ein Schutzschild für die Republik sein, das könne man von der Presse verlangen, soll der Gründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk gesagt haben.


In den 50iger Jahren, im Aufschwung des Kalten Krieges, ermittelten Staatsanwälte gegen hunderte Journalisten. Dutzende kamen ins Gefängnis wegen „kommunistischer Propaganda". Gewöhnlich reichte für diese Anklage ein Artikel, in dem ein Reporter über die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung berichtete.
In den 60iger Jahren schuf das Parlament sogar eine „Untersuchungskommission", die das Recht hatte, Verlage zu schließen und Zeitungen zu verbieten. Nach dem Militärputsch 1971 und 1980 blieb die Presse ganz unter der Vormundschaft der Armee. Erst unter Turgut Özal, nach 1983, konnten die Journalisten freier schreiben. Doch bald darauf mussten sich die Verleger wieder ducken, weil jedem der Paragraf drohte, der „separatistische Propaganda" mit schwersten Strafen belegte. Damit waren fast alle Artikel gemeint, die sich kritisch mit der Kurdenpolitik des Staates auseinandersetzten. Zeitungshäuser wurden in die Luft gesprengt und wieviele Journalisten in den 90iger Jahren ermordet wurden, ohne dass je ein Täter gefasst wurde, ist noch heute nicht bekannt.


Später wurde das böse Wort von der separatistischen Propaganda durch das Wort „Beleidigung des Türkentums"(§312) ersetzt. Kurz nach dem ersten Wahlsieg der AKP, 2002, konnten Journalisten wieder etwas freier atmen. Inzwischen ist die Regierung aber wieder zur „alten Türkei" zurückgekehrt. Nun wird wegen „Beleidigung des Islam" oder „Beleidigung des Präsidenten" ermittelt oder wegen „Geheimnisverrates" Bereits vor 5 Jahren gab es allein 5.000 Ermittlungsverfahren gegen Journalisten, weil sie über den Prozess gegen mutmaßliche Putschisten (Ergenekon) berichteten. Das war aber verboten. Nicht immer muss der Staatsanwalt einen Vorgang anlegen. Oft reicht schon – wie früher - der drohende Entzug einer Akkreditierung, und jeder weiß,: Wer bei einem Verlag oder Zeitung rausfliegt, bekommt nirgends mehr einen Job als Journalist. Es gibt umfangreiche „schwarze Listen", auf die alle große Unternehmen einen Zugriff haben.

All diese Maßnahmen greifen auch deshalb so gut, weil sie seit Jahrzehnten eingeübt sind. Der türkische Journalist Can Dündar zählt heute auch die Selbstzensur seiner Kollegen zu einem wuchtigen Hindernis für eine freie Presse.


Inzwischen versuchen etliche Journalisten, bei Internetzeitungen, mit Blogs im Internet und über Twitter dem Würgegriff aus Ankara auszuweichen. Alle Skandale, die der Regierung angelastet werden, ob Vetternwirtschaft, Korruption oder Amtsmissbrauch, waren zunächst im Internet zu lesen. So war auch das vom Staat konfiszierte Buchmanuskript „Die Armee des Imams" des Journalisten Ahmet Sik, schließlich im Internet zu lesen. Ahmet Sik beschrieb dort den Einfluss eines religiösen Ordens bei den türkischen Sicherheitskräften. Die Abhandlung wurde im web 1 Million mal heruntergeladen. Als Buch wären wohl nie mehr als 50.000 verkauft worden. Ein kleiner Dokumentarfilm über die „rebellierende türkische Jugend" wurde erst von wenigen Tagen im Internet über 2 Millionen mal angeschaut


Kein Wunder, dass sich die Regierung mit besonderer Energie auf neue Regelungen für das Internet stürzt, denn das Internet lässt sich ungleich schwerer zu kontrollieren, als ein dutzend Verlagshäuser. Ein Eingriff ins Internet ist den Wählern der AKP meist gleichgültig, denn 53 % der Türken haben überhaupt keinen Internetanschluss. Die Spaltung der türkischen Gesellschaft spiegelt sich auch in der Nutzung der Medien wider.