Dieter Sauter
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Wird es die Jugend bei den Wahlen richten?

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Erstellt: 24. März 2019

Kommendes Wochenende wird in den Kommunen am Bosporus gewählt. Ein Drittel der Wähler zwischen 18 und 28 Jahren alt. Ist das die „kritische Jugend“, auf die Kritiker des Präsidialsystems der Türkei warten?

 

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Tod den Feinden des Islam! Kampf allen Terroristen ! Zurück zur Todesstrafe ! Vergesst den Westen ! Wenn einer weiß, wie man Themen setzt, dann der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoan. Und die mediale Welt hopst eifrig über jedes noch so krumme Stöckchen, das er ihr hinhält.

Zur Zeit scheint Erdogan kein Thema zu groß, um für seine Bürgermeister-Kandidaten Stimmung zu machen. Das Besondere ist: Zum ersten Mal kann nicht damit werben, dass es mit ihm und seiner Partei, der AKP, allen besser geht. Es geht vielen schlechter. Die Arbeitslosigkeit steigt auf über 13 %, jeder vierte Jugendliche zwischen 15 und 24 hat keine Arbeit – und selbst diese Zahlen halten viele noch für schöngerechnet. Alles wird teurer, obwohl der Staat beträchtliche Summen ausgibt, um die Preissteigerung bei Lebensmitteln, Fahrtkosten oder Energiepreisen zumindest bis zu den Wahlen zu bremsen.

Der Wohlstand sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt, das sind entscheidende Zutaten, aus denen politische Niederlagen gefertigt werden.Erdogan weiß das. Er weiß auch, dass die Unzufriedenheit mit der Politik der AKP wächst.. Nicht umsonst werden seine Wahlkampfreden immer schriller.

Gibt es eine Wechselstimmung?

Gibt es nun die Wechselstimmung, auf die Kritiker des Präsidialsystems warten?  Wird es die Jugend richten? Immerhin ist genau ein Drittel der Wähler zwischen 18 und 28 Jahren alt. Der Volkswirtschaftler Mustafa Sönmez hat errechnet, dass 2 Millionen junge Leute (25-29 Jahre) weder eine Arbeit haben noch in Ausbildung sind. Wem geben die ihre Stimme?

Obwohl die Türkei Europas ‚jüngstes’ Land ist, gibt es aber bislang gerade mal zwei ernst zu nehmende Untersuchungen über die Jugend (15-29 Jahre) in der Türkei, eine der Konrad-Adenauer-Stiftung von vor zwei Jahren und eine der Forschungseinrichtung KONDA, die auch die Entwicklung in den letzten 10 Jahren (2008-2018) darstellt.

Solche Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, insbesondere in einem Land, in dem schon eine unbedachte Unterhaltung in einem Bus zu einer Anzeige und Verhaftung führen kann. Man sagt einem Fremden eher, was man sagen sollte, als die eigene Meinung. Trotzdem geben die Ergebnisse zumindest einen Trend wieder.

„modern“ und „konservativ“

Dass sich heute weniger junge Leute als „religiös konservativ“ bezeichnen (15%) , als noch vor 10 Jahren (28%) mag der türkischen Staatspräsident Tayyip Erdogan bedauern. Er hatte ja die Losung ausgegeben, man werde eine „gläubige Generation“ heranziehen. Bald die Hälfte der jungen Leute (43%) sagen heute auch, sie halten sich für „modern“ (2008 : 34 %).

Aber was heißt das?

Zunächst bleibt bei den Untersuchungen offen, was die Befragten unter „modern“ verstehen. Wahrscheinlich würden selbst etliche jungen Mitglieder der AFD von sich sagen, sie seien „modern“.

Obwohl also offenbleibt, was „modern“ hier heißt: Wenn sich 43 % für „modern“ halten bedeutet das auch: 57 % der jungen Leute (!) in der Türkei bezeichnen sich selbst als „konservativ“. Auch da gibt es also eine klare ‚Mehrheit’ für die Regierungspartei AKP und die anderen rechtsnationalen Parteien.

Erstaunlich ist das nicht. 82 % aller jungen Leute leben bis zum 27. Lebensjahr noch bei ihren Eltern. Was ist das für ein zu Hause?

Das Zuhause der Jugend

Auch wenn heute die meisten in der Großstadt wohnen, mehr als drei Viertel der Väter und Mütter sind ursprünglich auf dem Dorf oder in der Kleinstadt aufgewachsen. Diese Väter (83%) und Mütter (92%) haben nur die Grundschule besucht. Mehr als ein Drittel der Mütter können nicht einmal lesen und schreiben, ein Wert, der sich in den letzten 10 Jahren kaum geändert hat (2008: 38 % - 2018: 36 %).

Zweifellos leben viele Familien heute besser als noch vor 10 Jahren. Trotzdem arbeitet die Hälfte(!) aller abhängig Beschäftigten zum Mindestlohn, das sind nach dem Währungsverfall umgerechnet gerade mal rund 300 Euro. Manche erhalten sogar noch weniger. Selbst offizielle Statistiken rechnen damit, dass immer noch mehr als ein Drittel bei ihrer Arbeit nicht krankenversichert ist.

So wird der Zuverdienst der Frauen für die Familie immer wichtiger, vor allem in der Stadt, in der nicht mehr die Großfamilie für alle sorgt. Das hat die Einstellung der jungen Männern zu einer Beschäftigung der Frauen verändert. ‚Nur’ noch ein Drittel meint heute, die erste Pflicht einer Frau sei es, Ehefrau und Mutter zu sein. Aber: Mehr als die Hälfte meint nach wie vor, wenn die Frau arbeiten möchte, benötige sie dazu die Erlaubnis des Mannes. Immerhin aber glauben 20 % noch: Wenn eine Mutter arbeitet, ist das nicht gut für das Kind. 15 % halten sogar das Recht auf Bildung vorrangig für ein Recht des Mannes und für 26 % ist Politik ausschließlich Männersache.

Viele werden von Verwandten verheiratet

Wie langsam sich die Einstellungen auch in der jungen Generation ändern zeigt auch: Immer noch entscheidet ein Drittel nicht einmal, wen sie heiraten. 32 % werden durch die Vermittlung ihrer Eltern oder Verwandten verheiratet (2008: 42%)

Dass inzwischen fast alle zumindest per Smartphone (91%) Zugang zum Internet haben, ändert auch nichts daran, dass immer noch die Hälfte aller jungen Leute sagen, sie wollen keine Schwulen in ihrer Nähe haben. Ein Drittel (!) meint außerdem: Wenn Wissenschaft und Religion sich zu widersprechen scheinen, dann gebe ich der Religion den Vorrang. Das mag auch damit zu tun haben, dass 81% der Türken keine Fremsprache beherrschen. Es hatte sich im übrigen schon bei den jungen Flüchtlingen aus dem Nahen- und Mittleren Osten gezeigt: Viele hatten trotz des uneingeschränkten Zugangs zum Internet zum Teil abstruse Vorstellungen von dem Land hatten, in das sie geflüchtet waren. 

Das ändert sich vor allem durch eigene Anschauung. Aber kaum einer der jungen Leute der Türkei hat je durch eine Reise ins Ausland etwas Anderes selbst erlebt und erfahren. Gerade mal 8 Prozent der türkischen Bevölkerung besitzt überhaupt einen Reisepass. Im Urlaub fahren auch heute noch nur 2-3 Prozent ins Ausland.

Misstrauen gegenüber dem Ausland

Das führt – trotz Internetzugangs – zu einem großen allgemeinen Misstrauen gegenüber dem Ausland. Gerade mal 5 % trauen dem Staat Israel, 7 % dem Irak, 13 % den USA, 19 % Russland – am meisten trauen die jungen Leute noch Rumänien und Deutschland mit je 24 %. Ausgeprägte nationalistische Einstellungen sind also nicht erstaunlich. So glauben 36 %, die Türkei sei stark genug, um sich alleine in der Welt durchzusetzen. Ihr Land brauche keine Alliierten oder irgendeine Mitgliedschaft in einer politischen Union. Genauso viele glauben außerdem, die Türkei werde in Zukunft noch stärker werden.

Es gibt aber auch Anzeichen für eine wachsende Aufgeschlossenheit der jungen Leute in der Türkei gegenüber früher. So sagen inzwischen drei Viertel der Befragten, jeder solle die Möglichkeit haben, seine eigene Religion frei wählen zu können. Zwei Drittel könnten sich inzwischen auch vorstellen, jemanden zu heiraten, der oder die einen anderen Glauben hat oder aus einer anderen Kultur stammt (2008 sagten dazu erst 32 bzw. 47 Prozent ja). Auch in der politischen Auseinandersetzung urteilen viele nicht mehr so rigoros wie früher. Wenn nötig, muss eine Partei auch verboten werden sagen nur noch 40 % (2008: 54 %)

Zumindest soweit kann man zusammenfassen: Es wäre verwegen zu behaupten, die türkische Jugend sei „rebellisch“ oder zu erwarten, die jungen türkischen Wähler würden für einen grundlegenden Wechsel im politischen System des Landes stimmen. Eher ist ein Wechsel von der AKP zu rechtsnationalistischen Parteien wahrscheinlich. 

Der ‚Führer’

Zwar ist der Anteil der jungen Wähler der AKP in den letzten Jahren um fast 10 % zurückgegangen (von 37% auf 28 %). Etliche wechseln dann zu den (extrem) rechtsnationalistischen Parteien. Die immer wieder behauptete „tiefe Spaltung“ der türkischen Gesellschaft gibt es nicht. Die Anhänger der verschiedenen Parteien wollen zwar jeweils einen anderen ‚Führer’, die überwiegende Mehrheit aber ist mit dem politischen System der ‚Führerschaft’ durchaus einverstanden.

‚Linke’ Parteien, über die man reden müsste, gibt es am Bosporus nicht. Die kurdennahe HDP hat sich wieder fast ausschließlich auf die Kurdenfrage zurückgezogen. Die größte Oppositionspartei (CHP) nennt sich zwar „sozialdemokratisch“, sie ist aber von einer sozialdemokratischen Partei wie der SPD bald so weit entfernt wie die AKP von der CDU.

Worum geht es bei den Kommunalwahlen ?

Trotzdem scheint Tayyip Erdogan beunruhigt. Es ist nicht sicher, wie sich die Wähler bei den Kommunalwahlen angesichts der Wirtschaftskrise entscheiden werden. Dabei denkt er zum einen an den wachsenden Einfluss seines Koalitionspartners MHP. Und vor allem hat er die Opposition innerhalb seiner eigenen Partei Im Blick. Er hat zu viele enge Weggefährten auf dem langen Weg zur Alleinherrschaft rüde kaltgestellt. Bislang traut sich von denen noch keiner aus der Deckung. Verliert die AKP bei diesen Kommunalwahlen aber deutlich an Stimmen, kann sich das ändern. Dann stehen dem Land noch unruhigere Zeiten bevor als schon jetzt angesichts der Arbeitslosigkeit und Inflation absehbar ist. Das ist die eigentliche Bedeutung dieser Wahl.

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